Die Karten in der Politik werden neu gemischt – doch die Gesundheitspolitik spielte im Wahlkampf kaum eine Rolle. Jetzt drängen die großen Fragen: Wie bleibt die Versorgung finanzierbar? Welche Reformen sind nötig, um Apotheken, Ärzte und Kliniken zu entlasten? Und wer wird künftig das Gesundheitsministerium leiten? Dr. Dirk Heinrich (Virchowbund), Dr. Kai Joachimsen (BPI), Anne-Kathrin Klemm (BKK Dachverband) und Thomas Preis (Abda) haben diskutiert – mit klaren Worten und deutlichen Forderungen an die neue Regierung.
Die Bundestagswahl ist entschieden – mit einem historischen Tiefstwert für die SPD und dem Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag. Kurzum: Die Ampel-Koalition ist abgewählt. Die Union ist zwar die stärkste Kraft, hat aber auch ihr zweitschlechtestes Ergebnis eingefahren. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es auf eine Große Koalition aus CDU/CSU und SPD hinauslaufen wird. Friedrich Merz (CDU) will bereits bis Ostern eine neue Regierung bilden. „Ich glaube, es wird eine relativ schnelle Regierungsbildung geben müssen – aus externen Gründen. Gesundheitspolitik wird dabei eine geringere Rolle spielen“, meint auch Heinrich.
„Wir haben keine Zeit zu verlieren. Am Ende der Legislaturperiode waren wir auf einem guten Weg – Stichwort: Medizinforschungsgesetz. Es brennt lichterloh!“, warnt hingegen Joachimsen. Die Pharmastrategie müsse dringend weitergeführt werden. Der Aufbau neuer Produktionsstätten dauere Jahre, und keine Industrie könne erfolgreich sein, wenn die Marktbedingungen nicht stimmen. Die aktuellen Signale seien desaströs: „Es gibt nicht viele Wachstumsindustrien in Deutschland – aber wir könnten eine sein“, erklärt Joachimsen. Derzeit sei es ein Standortnachteil in Deutschland zu produzieren.
Preis fordert ein Sofortprogramm für Apotheken: „In den letzten zehn Jahren haben wir etwa 20 Prozent der Apotheken verloren.“ Ein Konzept der Abda für die Zukunft der Apotheke solle pünktlich zur Regierungsbildung vorgelegt werden.
Auch die Ärzte sehen akuten Handlungsbedarf. „Wir brauchen die Entbudgetierung für alle niedergelassenen Ärzte. Zudem muss die Patientensteuerung verbessert werden. Wir können es uns nicht leisten, dass Ärzte mit 62 in Rente gehen – sonst wird das Terminproblem immer größer“, meint Heinrich.
„Wir brauchen eine verpflichtende Ersteinschätzung durch einen Algorithmus – eine sinnvolle Patientensteuerung. Sonst erleben wir eine ‚kalte Bereinigung‘, also lange Wartelisten ohne klare Priorisierung“, erklärt Heinrich weiter. „Es muss sichergestellt werden, dass der Zugang zur Versorgung gerecht bleibt. Wer muss wirklich versorgt werden – und wer nicht? Dazu gab es im Wahlkampf nur oberflächliche Aussagen“, ergänzt Klemm. Sie warnt: „Die unangenehmen Fragen kommen erst noch.“
„Die steigenden Beitragssätze sind nicht nur ein Problem für die Krankenkassen, sondern auch für die Arbeitgeber. Die neue Regierung muss hier ansetzen, um den sozialen Frieden nicht zu gefährden“, mahnt Klemm. Ein weiteres Kostendämpfungsgesetz mit der „Rasierklinge“ sei nicht ihr favorisierter Weg – aber eine schnelle Kostenkontrolle sei notwendig.
„Es kann doch nicht sein, dass Ärzte, Apotheken und Krankenhäuser nicht mehr funktionieren, weil das Geld fehlt! Die Apotheken sparen der GKV jährlich rund 10 Milliarden Euro durch Rabattverträge – gleichzeitig macht unser Anteil an den Gesamtausgaben weniger als 2 Prozent aus. Verteilen Sie das Geld anders – aber Finger weg von den Apotheken!“, betont Preis. Die Apotheken seien bereit, weiterhin an den Rabattverträgen mitzuwirken – aber nur, bei fairer Bezahlung. Auch beim Skonto-Thema müsse die Politik dringend aktiv werden.
„Steuerung und Ambulantisierung – das könnte nicht sofort, aber langfristig zu Einsparungen führen“, erklärt Heinrich. Preis sieht hier Potenzial in einer engeren Zusammenarbeit mit Apotheken: „Patienten mit leichten Beschwerden brauchen nicht zwingend einen Arzttermin. Eine engere Verzahnung mit Apotheken könnte hier eine sinnvolle Lösung sein.“
Klemm fordert zudem eine Neuausrichtung des Gesundheitssystems: „Versorgungsketten und Versorgungspfade, Prävention – darauf ist unser Gesundheitssystem überhaupt nicht ausgerichtet. Wir müssen viel früher ansetzen. Wir werden neue Rollen für bekannte Akteure brauchen. Wenn ich mir etwas von der neuen Regierung wünschen dürfte, dann wäre es: sektorenübergreifende Versorgung als Regelversorgung.“
Zusätzliche Steuergelder für das System erwartet Klemm jedoch nicht: „Es wird keine Steuergelder ins System geben“, prognostiziert sie. „Die finanzielle Situation müssen Sie mit der Politik klären. Aber Sie können das Geld nicht bei den Leistungserbringern suchen – wir sind ausgequetscht“, stellt Preis klar. Darauf erwidert Klemm: „Aber Sie sind doch selbst Arbeitgeber. Wenn die Beiträge steigen, steigen auch Ihre Lohnnebenkosten.“
Klemm räumt ein, dass durch eine Reduzierung der Krankenkassen Vorstandsgehälter eingespart werden könnten. Allerdings werde der Großteil des Personals weiterhin benötigt, und die Verwaltungskosten lägen bereits unter fünf Prozent – hier seien also kaum noch Effizienzsteigerungen möglich. Preis stimmt zwar zu, dass durch eine Reduzierung der Krankenkassen nicht viele Verwaltungskosten eingespart würden. Weniger Bürokratie würde jedoch enorme Erleichterungen für Apotheken bedeuten. Gegen eine Einheitskasse sprechen sich sowohl Heinrich als auch Preis aus.
Joachimsen sieht das Grundproblem noch tiefer liegend: „Wir haben ein strukturelles Problem. Wir müssen das Gesundheitssystem ganzheitlich betrachten.“ Gesundheit sei teuer – es brauche einen größeren, umfassenden Ansatz. Das gesamte System müsse neu aufgestellt werden.
Er zieht einen drastischen Vergleich: „Stellen Sie sich vor, Sie haben ein sanierungsbedürftiges Haus ohne Dämmung und mit kaputten Fenstern – und versuchen, einfach nur mehr zu heizen. Das funktioniert nicht!“
Er plädiert unter anderem für mehr Eigenverantwortung im Gesundheitswesen – und das beginne bereits in der Schule mit Bildung. Auch die Kassen bräuchten einen „Reboot“, findet Klemm abschließend. Sollte es die Politik nicht hinbekommen, müsse die Selbstverwaltung auch selbst eingreifen.
Während des Wahlkampfs hatten mehrere Gesundheitspolitiker aus CDU und CSU gefordert, das Bundesgesundheitsministerium (BMG) wieder in Unionshand zu geben. In einer Koalition mit der SPD könnte das Ministerium jedoch erneut an die Sozialdemokraten gehen – möglicherweise wieder an Karl Lauterbach.
„Wir brauchen einen engagierten Minister. Aber wir arbeiten mit jedem Minister zusammen“, bestätigt Preis. „Ich wünsche mir ein klares Bekenntnis zur Selbstverwaltung, zur Selbstständigkeit und zur Freiberuflichkeit. In dieser Legislaturperiode brauchen wir erst einmal Lösungen für die drängenden Probleme, um das System zu stabilisieren“, ergänzt Heinrich. Einen Wunschkandidaten nennen die Vertreter der Leistungserbringer nicht.