Politisches Erdbeben: FDP-Mann wird Ministerpräsident in Thüringen dpa/ APOTHEKE ADHOC, 05.02.2020 15:11 Uhr
Es ist ein politisches Beben, dessen Schockwellen weit über Thüringen hinaus zu spüren sein werden. Gut dreieinhalb Monate nach der Landtagswahl ist völlig überraschend und mit Stimmen der AfD der FDP-Politiker Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt worden. SPD und Linke sprechen von einem Tabubruch, FDP-Vize Kubicki nennt es einen großartigen Erfolg.
Je nach Perspektive ist es eine Sensation oder ein Skandal: Bei der Wahl zum Ministerpräsidenten ist überraschend der FDP-Politiker Thomas Kemmerich zum Regierungschef gewählt worden. Er setzte sich bei der Abstimmung am Mittwoch im Landtag in Erfurt im entscheidenden dritten Wahlgang auch mit Stimmen der AfD von Parteichef Björn Höcke und der CDU gegen den bisherigen Amtsinhaber Bodo Ramelow (Linke) durch. Der von der AfD aufgestellte parteilose Kandidat Christoph Kindervater erhielt im dritten Wahlgang keine Stimme – rein rechnerisch muss die AfD ihrem eigenen Kandidaten keine einzige Stimme gegeben, sondern geschlossen für FDP-Mann Kemmerich gestimmt haben.
Die Entscheidung zwischen Kemmerich und Ramelow fiel denkbar knapp aus. Auf den bisherigen Regierungschef entfielen 44 Stimmen, Kemmerich erhielt 45 Stimmen. Es gab eine Enthaltung. Der Erfurter Politikwissenschaftler André Brodocz sagte am Mittwoch im MDR: „Das ist das erste Mal in der Geschichte der Bundesrepublik, dass ein Ministerpräsident mit den Stimmen der AfD ins Amt gewählt wurde.“
Während aus FDP und Union Glückwünsche für Kemmrich kamen, zeigten sich Politiker aus Linker, SPD und den Grünen schockiert. Sowohl Linken-Chef Bernd Riexinger als auch Juso-Chef Kevin Kühnert sprachen von einem Tabubruch. „Wie weit sind wir gekommen, dass die FDP einen Ministerpräsidenten Kemmerich wählen lässt mit den Stimmen des Faschisten Höcke und der AfD? Das ist ein Tabubruch, der weitreichende Folgen haben wird“, so Riexinger auf Twitter. „Der Tabubruch, der AfD zu echter Macht verholfen zu haben, wird nun für immer mit CDU und FDP verbunden sein“, schrieb Kühnert ebenfalls auf Twitter. „Die Masken sind gefallen. Es werden jetzt spannende Tage. Wachsamkeit ist das Gebot der Stunde.“ Auch SPD-Chef Norbert Walter-Borjans warf CDU und FDP einen „unverzeihlichen Dammbruch“ vor.
Glückwünsche erhielt Kemmrich hingegen aus der eigenen Partei und der Union. „Es ist ein großartiger Erfolg für Thomas Kemmerich. Ein Kandidat der demokratischen Mitte hat gesiegt. Offensichtlich war für die Mehrheit der Abgeordneten im Thüringer Landtag die Aussicht auf fünf weitere Jahre Ramelow nicht verlockend“, sagte FDP-Vize Wolfgang Kubicki. Als erstes Mitglied der Bundesregierung gratulierte Dorothee Bär, Staatsministerin für Digitales im Kanzleramt, Kemmrich zur Wahl. AfD-Bundestagsfraktionsvize Alice Weidel feiert die Wahl als großen Erfolg. „An der AfD führt nun kein Weg mehr vorbei“, so Weidel.
Der Thüringer CDU-Chef Mike Mohring weist unterdessen den Vorwurf einer Zusammenarbeit mit der AfD zurück. „Fakt ist: Wir sind nicht verantwortlich für die Kandidaturen anderer Parteien, wir sind auch nicht verantwortlich für das Wahlverhalten anderer Parteien“, so Mohring am Mittwoch im Thüringer Landtag.
Kemmerich ist erst der zweite Ministerpräsident der FDP in der Geschichte der Bundesrepublik. Der liberale Politiker Reinhold Maier war von 1945 bis 1952 Ministerpräsident von Württemberg-Baden und dann von April 1952 bis September 1953 Regierungschef des neuen Bundeslandes Baden-Württemberg.
Die Thüringer FDP hatten den Einzug ins Parlament bei der Wahl im vergangenen Herbst nur denkbar knapp geschafft und die Fünf-Prozent-Hürde um nur 73 Stimmen übersprungen. Ramelows angepeiltes Bündnis von Linke, SPD und Grünen verfügte nach dem Urnengang nur noch über 42 von 90 Mandaten im Landtag. Allerdings hatten Christdemokraten und Liberale kategorisch ausgeschlossen, mit der von Fraktionschef Björn Höcke geführten AfD zusammenzuarbeiten. Gemeinsam kommen die drei Fraktionen auf 48 Sitze.
Ramelow hatte eigentlich eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung in Thüringen unter seiner Führung angepeilt. Wegen der fehlenden Mehrheit hatte auch die AfD mit dem parteilosen Kindervater einen eigenen Kandidaten ins Rennen geschickt. Nachdem Ramelow in den beiden ersten Wahlgängen erwartungsgemäß die absolute Mehrheit verfehlt hatte, warf Kemmerich im dritten Wahlgang ebenfalls seinen Hut in den Ring.
Ramelow war seit 2014 Regierungschef des Freistaats und der erste Ministerpräsident der Linken in Deutschland. Doch obwohl seine Partei mit 31 Prozent die Wahl im Herbst 2019 klar gewonnen hatte, ging die Mehrheit der bisherigen Regierung von Linke, SPD und Grünen verloren. Dennoch hatten die bisherigen Koalitionspartner am Dienstag einen neuen Regierungsvertrag unterschrieben.