Der Großhandelsverband Phagro ist von der Datenaffäre des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) eigentlich nicht direkt betroffen. Doch weil Geschäftsführerin Bernadette Sickendiek sich mit Ministeriumsmitarbeitern über mutmaßliche Informationsflüsse austauschte, wurde auch sie damals befragt und musste am vergangenen Dienstag vor dem Landgericht Berlin aussagen. Ihre Aussage nahm die Verteidigung zum Anlass, ihre Motivation in Zweifel zu ziehen. Jetzt sollen alle Unterlagen zu Treffen zwischen BMG und Phagro beschlagnahmt und Staatssekretär Stefan Kapferer als Zeuge geladen werden. Auch Sickendiek muss erneut vor Gericht erscheinen, wie der Richter heute überraschend verkündete.
Am heutigen 10. Verhandlungstag wurde nur ein Zeuge vernommen – und das ging sehr schnell. Ein Bekannter des angeklagten ehemaligen IT-Mitarbeiters des BMG hatte diesem vor einigen Jahren Geld geliehen. H. hatte damals finanzielle Probleme, laut dem Zeugen offenbar, weil seine damalige Frau das Konto überzogen hatte. Die genaue Summe des Darlehens konnte im Verfahren nicht mehr genau geklärt werden, vermutlich waren es 4500 Euro. Auf die Rückzahlung habe er nicht bestanden, so der Zeuge: „Wenn ich einem Kumpel Geld leihe, betrachte ich das auch als Geschenk.“ Der Polizist hatte bei der damaligen Vernehmung ein weiteres Darlehen ins Protokoll genommen, das konnte der Zeuge aber nicht bestätigen.
Wichtiger: Von der angeblichen Datenspionage habe er nie etwas gehört, mit H. habe er auch nach öffentlichem Bekanntwerden nie darüber gesprochen. Die Vernehmung war insofern wenig ergiebig. Umso ausführlicher wurden anschließend die Aussagen von Sickendiek, dem Ex-ABDA-Präsidenten Heinz-Günter Wolf und einer weiteren ABDA-Mitarbeiterin besprochen. Die Verteidiger beider Angeklagter verlasen hierzu Stellungnahmen.
Sickendiek war im August 2010 nach eigener Aussage zweimal zu „informellen Gesprächen“ im BMG. Unter anderem ging es um die Novelle der Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO). Beim Phagro hatte man sich über die detaillierte Berichterstattung zu dem Entwurf bei APOTHEKE ADHOC gewundert. Und Sickendiek darüber, dass sie selbst darauf angesprochen worden war – und zwar sehr kurz nach dem Termin.
Darin einen Beleg für die mutmaßliche Datenspionage im BMG zu sehen, hält Rechtsanwalt Professor Dr. Carsten Wegner für absurd. Er vertritt Thomas Bellartz, der zusammen mit dem ehemaligen IT-Administrator Christoph H. beschuldigt wird, Daten aus dem BMG gestohlen zu haben.
Von dem angeblichen Geheimtreffen des Phagro war laut Wegner ein größerer Personenkreis unterrichtet. Nach Sickendieks Aussage war der Termin Wochen zuvor vereinbart worden und mehreren Vertretern auf beiden Seiten bekannt. Trotz angeblich vereinbarter Geheimhaltung habe Sickendiek zudem ihren Vorstand und die anderen Mitglieder informiert, erinnerte Wegner heute vor Gericht. „Da war nichts geheim.“ Eine Information über den Termin könne schon deswegen nicht aus „geklauten“ E-Mails stammen, weil noch nicht einmal die Staatsanwaltschaft im entsprechenden Zeitraum Übergaben unterstelle.
Zu den informellen Gesprächen hätte Wegner daher jetzt gern mehr gewusst. Er beantragt die Beiziehung sämtlicher Unterlagen im BMG – von der Einladung, über Mitschriften bis zur Reisekostenabrechnung. Auch beim Phagro sollten die entsprechenden Dokumente beschlagnahmt werden, fordert Bellartz‘ Anwalt. Der Staatsanwalt will sich in der kommenden Woche zu den Anträgen äußern.
Wegner zweifelt jedenfalls an Sickendieks Glaubwürdigkeit mit Bezug auf das informelle Treffen. Laut ihrer Aussage hatten die Phagro-Vertreter den Entwurf der ApBetrO-Novelle bei dem Termin selbst noch nicht dabei. Tatsächlich hatte aber die Deutsche Apothekerzeitung das komplette Dokument schon Wochen vorher zum Download ins Netz gestellt. Daraus folgt aus Sicht der Verteidigung, dass Sickendiek entweder unglaublich ahnungslos gewesen sein muss oder bei ihrer Vernehmung nicht die Wahrheit gesagt hat. Gelegenheit zur Nachfrage wird es schon in einer Woche geben: Sickendiek wurde zum nächsten Termin erneut einbestellt. Der Vorsitzende Richter hat diesen Schritt heute nicht näher begründet.
Rechtsanwalt Wegner sieht zudem Widersprüche zwischen Sickendieks Aussage und der eines damaligen BMG-Mitarbeiters. Dieser hatte ausgesagt, Sickendiek habe ihm gegenüber den früheren BMG-Pressesprecher Christian Lipicki als mögliches Datenleck im Ministerium genannt. Mit Sicherheit habe sie diesen Namen nicht nach außen kommuniziert, konterte Sickendiek bei ihrer Vernehmung. Sie will den Namen des damaligen Sprechers nicht einmal gekannt haben. „Einer von beiden muss lügen“, schlussfolgert Wegner.
Dem Rechtsanwalt zufolge hat Sickendiek bei ihrer Vernehmung womöglich falsch ausgesagt, um Bellartz zu belasten sowie die Apothekerschaft in ein schlechtes Licht zu rücken. Wegner schlägt einen großen Bogen mit der Vermutung, Sickendiek habe bei ihrer Vernehmung durch die Polizei im Jahr 2013 eine Gelegenheit genutzt, sich an Bellartz zu rächen. Denn dieser habe den Großhandel in seiner Funktion als ABDA-Sprecher heftig attackiert, unter anderem mit der „Raubbau-Kampagne“ aus dem Jahre 2010. Es sei damals zu schweren Verwerfungen zwischen den Apothekerorganisationen und dem Großhandel gekommen. „Im Zentrum: Frau Sickendiek“, so Wegner.
Der Verteidiger ging auch auf verschiedene Kartellverfahren gegen die Großhändler ein, inklusive der verhängten Millionenstrafen. Dass Sickendiek vor diesem Hintergrund ausgesagt hatte, die Großhändler stünden untereinander in sehr hartem Wettbewerb, habe „schon fast komödiantische Züge“, so Wegner. Auch habe Sickendiek, obwohl direkt dazu befragt, keine näheren Angaben zum aktuellen Kartellverfahren gegen die Mehrheit der Mitglieder ihres Verbandes gemacht.
APOTHEKE ADHOC hatte ausführlich über die Kartellverfahren sowie das Vorgehen der Großhändler im Rahmen der AMNOG-Gesetzgebung berichtet. Bellartz‘ Verteidiger fragt sich, ob Sickendiek selbst über diese Berichterstattung verärgert war und sich mit ihrer Aussage revanchieren wollte. Dass die Geschäftsführerin von der Berichterstattung unbeeinflusst sei, hält Wegner jedenfalls für unglaubhaft. Inhaltlich habe sie zu den Vorwürfen gegen seinen Mandanten jedenfalls überhaupt nichts beitragen können.
Wegner wunderte sich abschließend über die „eigenwillige Zusammenstellung“ der angeblich zentralen Zeugen seitens der Staatsanwaltschaft: Zuletzt Sickendiek als „Verbandsfürstin“ des Phagro, mit immer wieder wegen Kartellabsprachen zu Millionenstrafen verurteilten Mitgliedern. Und zuvor schon H.‘s Exfrau, die in einem anderen Fall wegen Falschaussage rechtskräftig verurteilte wurde. Dies steht Wegner zufolge sogar wieder an, da sie bei ihrer polizeilichen Vernehmung dem Angeklagten H. unterstellt hatte, sich ins Ausland abzusetzen, diese „Warnung“ bei ihrer Vernehmung vor Gericht aber ausdrücklich abgestritten hatte – trotz der Belege in den Akten.
Stattdessen werde in diesem Verfahren versucht, ein angebliches Telefonat aus dem Jahre 2010 zwischen einem Journalisten und einer Verbandsvertreterin als Beleg für andere angebliche Straftaten heranzuziehen, monierte Wegner.
Am vergangenen Dienstag hatte auch der ehemalige ABDA-Präsident Heinz-Günter Wolf ausgesagt und dabei aus Wegners Sicht zentralen Punkten der Anklage klar widersprochen. Er habe nie von einem Datentransfer aus dem BMG in die ABDA gehört, kenne auch keinen Informanten oder irgendwelche Daten-CDs aus dem BMG. Die Existenz von vermeintlichen Geldtöpfen für Informationen bei der ABDA hatte Wolf eindeutig dementiert. Durchstechereien gebe es in der Politik allerdings, dann aber mit Absicht.
Entlastung gab es auch laut Wegner auch bezüglich der mysteriösen Synopse der ABDA, die Vertreter bei einer Besprechung im BMG dabei hatten. Einer Zeugin aus dem BMG zufolge war die ABDA-Version der eigenen aus dem Ministerium in Farbe und Gestaltung ähnlich. Wolf verwies darauf, dass die ABDA-Rechtsabteilung solche Synopsen regelmäßig selbst erstelle. Auch insoweit hätten sich die vagen Vorwürfe der Anklageschrift nicht bestätigt, so Wegner.
H.’s Anwalt wies ebenfalls auf die „geringe Ergiebigkeit der Angaben“ der Zeugen vom vorherigen Verhandlungstag hin. Die Existenz von Geldtöpfen bei der ABDA für den etwaigen Kauf von Informationen habe Wolf „ganz sicher“ ausschließen können. Auch von einem Entwurf der ApoBetrO habe er nichts gehört. Anwalt Nikolai Venn zufolge hat sich nichts ergeben, was „auch nur indiziell“ als Bestätigung für die Vorwürfe gegen seinen Mandanten ergeben könnte. Auch der anderen Zeugin der ABDA waren laut Vernehmung keine Durchstechereien bekannt, geschweige denn irgendeine Beteiligung des H.
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