„Das BfArM ist ein zahnloser Tiger“ Julia Pradel, 17.02.2016 13:33 Uhr
Eine Zulassung durch eine Behörde und die anschließende Nutzenbewertung – was für Arzneimittel selbstverständlich ist, gibt es bei Medizinprodukten nicht. Das sehen die Krankenkassen kritisch. Der GKV-Spitzenverband hat in den Verhandlungen zur EU-Medizinprodukteverordnung unter anderem auf eine behördliche Zulassung gedrängt. Inzwischen wären die Kassen schon froh, wenn endlich die Bedingungen für die Zulassung festgeschrieben würden.
Die Verhandlungen für eine neue Medizinprodukteverordnung auf EU-Ebene laufen seit 2012 erfolglos. Derzeit befinden sich die EU-Kommission, das EU-Parlament und der Rat der Europäischen Union in Trilogverhandlungen. Beim GKV-Spitzenverband ist man mit den derzeit geplanten Regelungen zwar nicht glücklich – aber sie seien „besser als nichts“, sagte die Vorsitzende Dr. Doris Pfeiffer.
Aus Sicht von Pfeiffer ist ein baldiger Abschluss der Verhandlungen wichtig. „Weitere Verzögerungen gehen auf Kosten der Patienten“, warnte sie bei einer Diskussionsrunde ihres Verbands. Da sich für die Forderung der Kassen, die Zulassung von Medizinprodukten als behördliche Aufgabe zu gestalten, keine Mehrheiten gefunden hätten, seien klare Vorgaben nun umso wichtiger: zu den benannten Stellen, die die Medizinprodukte prüfen, deren Kontrolle und Haftungsfragen.
Dass die Überwachung voraussichtlich nicht in die Hand von Behörden gegeben wird, sieht auch Professor Dr. Jürgen Windeler kritisch. Der Leiter des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) moniert, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zwar für die Sicherheit von Medizinprodukten zuständig sei, faktisch aber nichts machen könne. Er bezeichnete die Behörde als „zahnloser Tiger“.
Wie schlecht das System bei Medizinprodukten funktioniert, veranschaulichte Windeler am Beispiel der intrakraniellen Stents an, die Schlaganfälle verhindern sollen. Diese seien wahrscheinlich seit 2008 in Deutschland erhältlich. Damals habe es lediglich eine Fallstudie mit 45 Patienten gegeben, laut der das Schlaganfallrisiko gesenkt wurde. Drei Jahre später habe eine randomisierte Studie aus den USA gezeigt, dass die Stents sogar zu mehr Schlaganfällen führten. Allerdings wisse niemand, wie viele Stents in Deutschland implantiert worden seien, bei welchen Indikationen und mit welchen Konsequenzen. Die Stents seien nach wie vor auf dem Markt.
Aus Sicht von Windeler geht es darum, ein System zu etablieren, dass die Medizinprodukte kontrolliert – bei Arzneimitteln sei das schließlich möglich. Auch da stünden sich wirtschaftliche Interessen und Patienteninteressen gegenüber. Trotzdem sei es mit dem AMNOG gelungen, ein relativ erfolgreiches System einzuführen – zumindest in medizinischer Sicht. Bei Medizinprodukten werde dieses System aber nicht angewendet, kritisiert der IQWiG-Chef.
Kordula Schulz-Asche, gesundheitspolitische Berichterstatterin der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, kann sich ein System nach dem Vorbild der Arzneimittelzulassung durchaus vorstellen: „Ich glaube, dass es einführbar wäre – aber es hängt am politischen Willen“, so die Oppositionspolitikerin.
Ihre Kollegin Martina Stamm-Fibich, Berichterstatterin für Medizinprodukte der SPD-Bundestagsfraktion, hält die Diskussion darüber, ob Behörden oder – wie gehabt – benannte Stellen die Produkte prüfen sollten, für wenig zielführend. Wichtiger ist aus ihrer Sicht eine Debatte über den Einsatz von Produkten bei Untersuchungen oder Behandlungen.
Windeler fordert fünf Dinge: eine systematische Nutzenbewertung für Medizinprodukte, Transparenz bezüglich der zur Zulassung eingereichten Unterlagen, Durchgriffsrechte für das BfArM, eine Studienförderung für kleine und mittlere Unternehmen und weniger Wettbewerb um das schnellste Anbieten von Methoden. „Dieses Mantra, Innovationen so schnell wie möglich an den Patienten zu bringen, muss überdacht werden“, findet er.
Die US-Zulassungsbehörde FDA kontrolliere deutlich strenger, mit der Folge, dass nur ein Bruchteil der Medizinprodukte zugelassen werde – und das drei bis fünf Jahre nach Einführung. Aus Sicht von Windeler kein Nachteil. Er verglich die Situation mit unreifen Äpfeln, die die europäischen Patienten bekämen, und reifen Äpfeln für die Amerikaner. Auch aus Sicht von Pfeiffer wäre es in Ordnung, wenn neue Medizinprodukte zwei bis drei Jahre später beim Patienten wären – „aber dann auf Sicherheit und Nutzen geprüft“.
Pfeiffer wünscht sich Studien nach den Standards evidenzbasierter Medizin. „Niedrigere Stufen der Evidenz müssen begründet sein.“ Stamm-Fibich hält solche Ausnahmen ebenfalls für möglich: „Wenn die Wissenschaft belegt, dass randomisierte kontrollierte Studien nicht funktionieren, dann kann man Alternativen in Betracht ziehen.“
Windeler ist mit diesem Kompromiss nicht zufrieden. Aus seiner Sicht sind die geforderten Studien grundsätzlich möglich: „Es funktioniert wie bei Arzneimitteln: Man legt einen Endpunkt fest und sucht dann nach einem geeigneten Studiedesign.“ Auch Pfeiffer betonte: „Ausnahmen sind viel seltener als Viele meinen.“
Ein weiteres Problem stellt die Haftung dar. „Es gibt in diesem Bereich viele kleine Unternehmen mit nur einem Produkt. Wenn das vom Markt verschwinden, dann sind die Hersteller immer insolvent“, erklärte Schulz-Asche. Pfeiffer ergänzte: „Es kann nicht sein, dass die Geschädigten darunter leiden, dass ein Hersteller fahrlässig oder vorsätzlich einen Schaden verursacht hat.“ Die Versicherungssummen müssten daher entsprechend hoch sein.
Wenn ein Produkt ein Medizinprodukt ist – und das entscheidet sich nach dem Anwendungsgebiet – muss es meist eine Konformitätsbewertung durchlaufen. Eine Ausnahme sind Produkte der Risikoklasse I, in die etwa Mundspatel, Mullbinden oder Lesebrillen fallen – diese Hersteller haben die Überwachungsbehörden daher besonders im Blick. Für Produkte der Klassen IIa (Zahnfüllungen, Röntgenfilme, Hörgeräte), IIb (Intraokularlinsen, Kondome, Infusionspumpen) und III (Hüftprothesen, Herzkatheter, Arzneistoffe abgebende Stents) muss eine benannte Stelle eingeschaltet werden, etwa der TÜV. Der vergibt das CE-Kennzeichen. Gibt es Uneinigkeit über die Klassifizierung, kann das BfArM hinzugezogen werden.