Ausgerechnet die Wiederholung der verpatzten Wahl zum Abgeordnetenhaus in Berlin hat das Zeug, das politische Kräfteverhältnis in Deutschland nachhaltig zu erschüttern. Die CDU wittert Morgenluft und will vor allem die Themen Sicherheit und Migration besetzen. Für die FDP stellt sich einmal mehr die Existenzfrage. Die Ampel droht zu wackeln.
Laut den vorläufigen Ergebnissen kommt die CDU auf 28,2 Prozent und wird damit mit Abstand stärkste Kraft. Die SPD folgt mit 18,4 Prozent, genauso wie die Grünen. Die Linke holt 12,2 Prozent, die AfD 9,1 Prozent. Die FDP schafft es mit 4,6 Prozent nicht ins Abgeordnetenhaus.
Im Vergleich zu 2016, vor allem aber auch zur verpatzten Wahl im September 2021 ergeben sich damit deutliche Unterschiede: Die CDU gewinnt rund 10 Prozentpunkte hinzu, die SPD verliert 2 Prozentpunkte, die FDP sogar 3 Prozentpunkte. Die Linke verliert weiter an Zuspruch und kann sich nur in einzelnen Stadtbezirken als traditionell stärkste Kraft halten. Die AfD kann nach dem Verlust von 2021 wieder zulegen, bleibt aber unter dem Niveau von 2016.
CDU-Spitzenkandidat Wegner sprach von einem „phänomenalen“ Wahlerfolg und unterstrich den Anspruch auf eine Regierungsbildung. Man habe dazu von den Wählerinnen und Wählern den klaren Auftrag bekommen, und werde in den nächsten Tagen daher Sondierungsgespräche führen.
Die CDU sieht einen politischen „Stimmungswechsel“, der auch auf die Vorkommnisse in der Silvesternacht zurückzuführen ist. Damals waren in Berlin auch Sicherheits- und Rettungskräfte attackiert worden. Schnell hatte CDU-Chef Friedrich Merz das Thema nach dem Jahreswechsel besetzt, von „kleinen Paschas“ aus arabischen Familien gesprochen. Der Erfolg der Berliner CDU dürfte ihm und seiner Partei erst einmal Auftrieb geben – auch für die anstehenden Landtagswahlen in Bremen und Hessen; in Bayern muss CSU-Chef Markus Söder ran.
Freilich kann Merz den Erfolg in Berlin 1:1 übernehmen, denn er muss aufpassen, dass er seine Wähler nicht mit allzu derben Position verprellt. Als Hardliner für das Thema Sicherheit bringt sich innerhalb der CDU jetzt Ex-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) in Spiel: Im ARD-Talk „Anne Will“ verteidigte er nicht nur die umstrittene Aussage seiner Parteichefs, sondern sprach – zum Entsetzen einiger Gäste – von „kulturell vermittelter toxischer Männlichkeit“.
Während sich die Union nach der Berlin-Wahl einem neuen Konservatismus hingibt, kämpft die FDP verzweifelter als je zuvor um ihr politisches Überleben. Seit dem Start der Ampelkoalition im Herbst 2021 sind die Liberalen in Saarland und Niedersachsen und jetzt Berlin am Einzug ins Landesparlament gescheitert. In NRW und Schleswig-Holstein gab es dramatische Verluste.
Noch spricht Parteichef Christian Lindner von einer „stabilen Situation“ auf Bundesebene. Doch wie schon nach der verlorenen Wahl in Niedersachsen wird der Ruf nach einer aggressiveren Haltung innerhalb der Ampel lauter. Die Stimme der FDP müsse deutlicher sein als vorher, kündigte Generalsekretär Bijan Djir-Sarai an. Vor allem den Grünen wirft er vor, liberale Kernanliegen wie den Ausbau der Infrastruktur zu blockieren. Gleichzeitig forderte er die SPD auf, sich in dem Streit endlich zu positionieren.
Die ohnehin schon angespannte Stimmung innerhalb der Ampel droht sich also weiter zu verschlechtern. Während es für SPD, Grüne und FDP zuletzt in Umfragen nicht mehr für eine Mehrheit reichte, gewinnt neben der Union vor allem die AfD wieder an Stimmen. Gewonnen werden Wahlen derzeit, so könnte man meinen, mit konservativen Themen. Gut möglich, dass hier bald eine Eigendynamik einsetzt – so ähnlich wie in der Hochphase der Pandemie, als sich Politiker erst mit Forderungen nach Schutzmaßnahmen und dann nach Lockerungen gegenseitig überboten. Auch damals ging es zu einem großen Teil um Profilierung.
Zunächst stellt sich aber die Frage, wer in Berlin jetzt eine Regierung zusammenbringt. Franziska Giffey, Regierende Bürgermeisterin und Landesvorsitzende der SPD, will trotz des Wahlsiegs der CDU um ihr Amt kämpfen. „Wenn wir eine Möglichkeit haben, ein Regierungsbündnis anzuführen unter SPD-Führung, dann werden wir auch versuchen, dafür eine stabile politische Mehrheit zu organisieren.“ Rückendeckung kam von der SPD-Bundesvorsitzenden Saskia Esken. Auch Bettina Jarasch von den Grünen würde die Koalition mit SPD und Linken am liebsten fortsetzen.
Dass in Berlin ein Regierungsbündnis am Wahlsieger vorbei geschmiedet wird, ist für die CDU undenkbar. Eine politische Legitimation dafür gebe es nicht, sagte Spahn: „Der Senat wurde abgewählt, die Regierungschefin hat kein Vertrauen bei den Bürgern, alle Regierungsparteien haben verloren.“
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