Rx-Versandverbot oder Plan B? Die Digitalisierung lässt viele Kollegen ratlos zurück. Zukunftsforscherin Corinna Mühlhausen empfiehlt den Apothekern, in die Offensive zu gehen: „Apotheker müssen daran gehen, die gesetzlichen Änderungen, die sowieso kommen werden, vorauszudenken.“ Dann ist ihr um die Zukunft der Apotheken vor Ort nicht bange – denn: „Die Digitalisierung frisst die Apotheken nicht.“
ADHOC: Wie sieht die Zukunft der Vor-Ort-Apotheke aus?
MÜHLHAUSEN: Natürlich ist der Trend zur Digitalisierung überall präsent, auch in der Offizin. Die Apotheken müssen sich dieser Herausforderung stellen. Das gilt auch für den Onlinehandel mit Arzneimittel. Trotzdem sehe ich darin kein Horrorszenario.
ADHOC: Warum, was stimmt Sie optimistisch?
MÜHLHAUSEN: Die Apotheken von heute sehen nicht viel anders aus als vor 20 Jahren. Es hat sich zwar einiges am Erscheinungsbild geändert. Aber beim Thema Digitalisierung muss man konstituieren, dass andere Wirtschaftsbereiche bereits viel weiter sind. Die Apotheken hinken hier klar hinterher. Nehmen Sie als Beispiel Bankgeschäfte: Im Durchschnitt geht der typische deutsche Bankkunde nur noch zweimal im Jahr in die Filiale. Er erledigt aber 500 Transaktionen über das Onlinebanking. Auch Fahrkarten kaufte man sich früher am Schalter. Heute geht das ebenfalls immer häufiger via App. Das heißt, klassische Retailbereiche haben sich schon viel stärker geändert als Apotheken. Natürlich geht es in der Apotheke um Gesundheit und das Wissen des Apothekers in seiner Beratung. Der Therapieerfolg hängt ja auch davon ab, dass sich die Patienten gut beraten und aufgehoben fühlen. Daher kann man die Erfahrungen in anderen Retailbereichen nicht 1:1 auf Apotheken übertragen. In den Apotheken gibt es neben der Notwendigkeit der Digitalisierung daher noch einen ganz starken Mehrwert – die persönliche Beratung. Und den gilt es zu stärken.
ADHOC: Wohin entwickelt sich unsere Gesellschaft und damit die Kundenstruktur der Apotheken?
MÜHLHAUSEN: Wir erleben momentan eine neue Sinnsuche, eine Suche nach Gemeinschaft und eine Abkehr von der Ich-Zentrierung. Die Menschen entwickeln ein Bewusstsein für ihren Körper und haben Spaß daran, sich um ihr Wohlbefinden zu kümmern. Gesundheit wird nicht mehr nur als Abwesenheit von Krankheit verstanden, sondern steht auch für Schönheit, Jugendlichkeit und Fitness. Natürlich wird das getriggert durch leere Kassen und durch die Ermahnung, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen. Aus Lifestyle wird Healthstyle.
ADHOC: Welche Bedeutung hat diese Entwicklung für stationäre Apotheken sowie für Versandapotheken?
MÜHLHAUSEN: Es gibt einen Trend zur Selbstversorgung mit Medikamenten über Internetanbieter. Doch das gilt nur, solange es nicht um ernste Erkrankungen geht. Ich sehe darin keine Bedrohung für die Apotheken. Auch für den Arzt nicht. Deren Kompetenz wird dadurch eher noch wachsen. Denn früher oder später stößt der Laie an seine Grenzen und braucht fachlichen Rat. Diejenigen, die nur den billigen Einkauf suchen, wird man nicht mit der stationären Apotheke erreichen. Apotheker sollten sich daher auf Rabattschlachten gar nicht erst einlassen. Es gilt die Beratungskompetenz zu stärken und das Vertrauen, das Apotheker genießen, stärker herauszustellen.
ADHOC: Was erwartet der moderne Patient/Kunde von der Apotheke?
MÜHLHAUSEN: Das lässt sich nicht pauschal beantworten. Ich glaube nicht, dass alle Apotheker alles falsch machen und dass sich alle Kunden über einen Kamm scheren lassen. Aber klar ist auch: Apotheker müssen bereit sein, sich zu verändern. Das muss bei jedem Apotheker selbst beginnen – und zwar bei zwei Aspekten: Jeder muss seinen Standort immer wieder analysieren. Was ändert sich im meiner Umgebung? Wie ist das Verhältnis von Stammkunden zur Laufkundschaft? Verändert sich an seinem Standort das Verhältnis von jüngeren und älteren Kunden und so weiter. Zweitens: Der Inhaber muss sich und sein Team gegenüber seinen Kunden klar definieren. Wofür stehen wir, was können wir gut, wofür brennen wir.
ADHOC: Was soll das bringen?
MÜHLHAUSEN: Aus der Konsumforschung wissen wir, dass Kunden nichts weniger mögen als Beliebigkeit. In der Apotheke heißt es manchmal: Das Arzneimittel habe ich nicht vorrätig, das muss ich bestellen, kommen Sie gegen Mittag wieder. Gegen Mittag sind die Kunden aber schon ganz woanders in ihrem Leben. Damit müssen Apotheker anders umgehen, im konkreten Beispiel etwas an der Logistik ändern. Das schafft ansonsten keine Kundenbindung. Jedem ist klar, dass jede Apotheke nicht alle Arzneimittel auf Lager haben kann. Aber an dieser Stelle müssen Apotheker zu den Kunden eine persönliche Bindung aufbauen, jeden Kunden so behandeln, dass dieser spürt, dass man ihn wirklich als Kunden haben will.
ADOC: Welche Chancen steckt für die Apotheken im Trend zu einem ausgeprägterem Gesundheitsbewusstsein der Kunden?
MÜHLHAUSEN: Darin steckt eine Chance. Aber auch das muss zu jeder einzelnen Apotheke, zum Inhaber passen. Aus der Trendforschung lassen sich für die Apotheken einige Themen ableiten. Ein wichtiges Thema der Zukunft ist Schlafen. Die Menschen wollen nicht nur immer besser und schneller, gesünder und schöner werden, sie suchen verstärkt nach Ruhe und Entspannung. Und dabei ist erholsamer Schlaf ganz wichtig. Und der Kunde will es einfach haben und bequem, er möchte nicht den notwendigen Dingen hinterher laufen.
ADHOC: Was bedeutet das für die Apotheken konkret? Muss der Apotheker seinen weißen Kittel ausziehen und aus der Offizin hinaus zum Kunden gehen?
MÜHLHAUSEN: Wenn das gesetzlich erlaubt wäre, sollten das Apotheker in Erwägung ziehen. Man muss ja nicht gleich soweit gehen wie in den USA, wo Arzneimittel mit einer Drohne bereits in den Park geliefert werden können. Das ist Science Fiction. Vielleicht gibt es aber schon Schritte in diese Richtung. Dazu braucht es aber einer inneren Wendung des Apothekers, die Bereitschaft auf Kundenwünsche zuzugehen. Auf keinen Fall sollte man den Fortschritt verteufeln und alle Möglichkeiten, die der Gesetzgeber anbietet, aufgreifen – wie jetzt das elektronische Rezept. Apotheker müssen bereit sein, sich auf die Zukunft einzulassen, Lust am Experiment zu haben. Die Zettelwirtschaft beim Rezept passt doch einfach nicht mehr in unsere Zeit und wie wir uns sonst bewegen. Ob er das Arzeimittel nach dem Feierabend mit dem Fahrrad zum Kunden liefert oder ins Büro, muss jeder Apotheker für sich entscheiden. Aber auch die weiterhin analoge Apothekenwelt möchte der Kunde schön erleben und nicht in einer Warteschlange stehen und etwas über die Hämorrhoidenprobleme seiner Mitmenschen erfahren. Das ist nicht überall gut gelöst.
ADHOC: Welche Rolle spielt die persönliche Bindung Apotheker/Kunde?
MÜHLHAUSEN: Das ist nach wie vor ganz wichtig. Der neueste Werteindex zeigt eine deutliche Verschiebung: Aktuell steht der Wert Natur klar auf dem ersten Platz. Vorher war es das Thema Gesundheit und davor Freiheit. Zwei große Megatrends haben unsere Gesellschaft in den letzten Jahren geprägt. Neben der Digitalisierung die Urbanisierung. Das ist weiterhin so. Jetzt aber macht sich eine Gefühl bei den Menschen breit, dass es damit mal genug ist. Die Menschen haben Sehnsucht nach Natur, weil es ein Grundbedürfnis des Menschen ist, die Natur wieder in die Digitalisierung und Urbanisierung zu integrieren.
ADHOC: Wo bleibt da die Apotheke?
MÜHLHAUSEN: Für die Apotheke stecken darin große Chancen. Apotheker müssen ihren Kunden das Gefühl vermitteln, hier bist du gut aufgehoben, wir haben Zeit für dich und deine Gesundheit. Wir kümmern uns um deine Gesundheit und Leistungsfähigkeit. Nehmen Sie die Diskussion um die Anzahl der Apotheken. In Städten gibt es sie an jeder Ecke. Gefühlt sind das zu viele. Aber – die Debatten um die Wartezeiten in Arztpraxen zeigen: Hier gibt es medizinische Dienstleistungen, die auch von Apotheken übernommen werden könnten. Warum kann ich eine Videosprechstunde zu Hautproblemen nicht in eine Apotheke verlegen?
ADHOC: Weil das gesetzlich verboten ist.
MÜHLHAUSEN: Das ist kein Naturgesetz und muss nicht so bleiben. Apotheker müssen daran gehen, die gesetzlichen Änderungen, die sowieso kommen werden, vorauszudenken. Sie müssen sich Gedanken darüber machen, wie sie ihre Apothekenwelt zukunftsfest machen könne, wie sie gegen die Versandkonkurrenz bestehen können. Man kann da auch von DocMorris lernen. Schauen sei sich das Patienten-Matching-Portal an. Dort kann ich mich mit Patienten mit ähnlichen Erkrankungen vernetzen. Oder denken sie an die Situation von Angehörigen vom Kranken. Es geht doch auch darum, dass sich Angehörige austauschen können, denken sie an junge Eltern. Hier können Apotheker sehr hilfreich sein. DocMorris hat doch auch erkannt, dass es nicht ausreicht, elektronische georderte Arzneimittel auszuliefern. Es geht immer und in erste Linie um den Menschen.
ADHOC: Noweda und Burda haben angekündigt, im nächsten Frühjahr eine Bestellplattform anzubieten. Patienten sollen darüber ihre Arzneimittel bundesweit ordern und von ihrer Apotheke ausliefern lassen können. Wie beurteilen Sie das?
MÜHLHAUSEN: Das ist super. Das ist doch ein neuer Zugang zu den Apothekenkunden, ohne dass den Apotheken Umsatz verloren geht. Man muss sich nur wundern, dass darauf die Standesvertreter der Apotheker nicht selbst gekommen sind.
ADHOC: Ihnen ist um die Zukunft der inhabergeführten Apotheke nicht bange?
MÜHLHAUSEN: Nein, auf keinen Fall. Die werden wir noch übermorgen brauchen. Die meisten Menschen suchen doch einen Ansprechpartner für medizinische Themen und gesundheitliche Beratung. Das ist ein Riesengut, mit dem Apotheker wuchern können. Die Notaufnahmen der Kliniken sind voll, weil die Menschen händeringend Rat suchen. Es wird in Zukunft Zwischenstellen geben zwischen Notaufnahmen und Arztpraxen, wo auch der Apotheker seinen Platz finden wird, für Menschen die hochmobil sind und keinen Hausarzt mehr haben. Da gibt es noch viel Potential. Keine Sorge: Die Digitalisierung frisst die Apotheken nicht.
Corinna Mühlhausen ist Zukunftsforscherin. Der Schwerpunkt der Arbeit der 47-jährigen liegt in der Recherche, Analyse und Dokumentation des Wertewandels unserer Gesellschaft. Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht der Mensch: Die Bedürfnisse, Wünsche und Ängste des Konsumenten und Patienten formen die Trends und bestimmen die Märkte. Ihr Spezialgebiet ist der Gesundheitsmarkt, dem sie sich mit umfangreichen Studien und Analysen für unterschiedliche Auftraggeber widmet. Zusammen mit Professor Dr. Peter Wippermann hat sie den Begriff „Healthstyle“ geprägt.
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