Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel rechtfertigt ihren Kurs mit staatlichen Kontaktbeschränkungen und Alltagsauflagen. „Die Alternative wäre gewesen, alle Menschen in kurzer Zeit der von dem Virus verursachten Erkrankung auszusetzen und dabei zuzusehen, wie unser Gesundheitssystem kollabierte. Dabei hätten wir den Tod vieler, besonders der Alten und Vorerkrankten, riskiert, wenn nicht billigend in Kauf genommen“, schreibt die 70 Jahre alte ehemalige CDU-Chefin in ihren Memoiren, die sie heute in Berlin vorstellen will.
Schwer erträglich habe sie es gefunden, wenn es bei Toten „scheinbar beruhigend hieß, dass ein Mensch nicht an Corona gestorben sei, sondern mit Corona. Es hätte noch gefehlt, dass man „nur“ voranstellte, nach dem Motto: der Mensch war so alt oder so vorerkrankt, der wäre sowieso bald gestorben, ob mit oder ohne Corona.“
Mit Blick auf manche Beratungen lässt Merkel rückblickend Frust erkennen. „Auch wenn ich unsere föderale Ordnung in Deutschland im Grundsatz für richtig hielt: Jetzt verzweifelte ich an ihr.“ Als Naturwissenschaftlerin habe es sie „schier verrückt“ gemacht, nach dem in der Politik so beliebten Prinzip Hoffnung vorzugehen.
Manchmal sei es für sie auch nur schwer zu ertragen gewesen, „wenn Politiker Wissenschaftler bezichtigten, permanent ihre Meinung zu ändern, und damit ein großes Missverständnis über das Wesen von Wissenschaft und Forschung offenbarten“. Über eine Bund-Länder-Runde 2020, bei der ein Forscher „wie ein dummer Schuljunge behandelt“ worden sei, schreibt sie: „Innerlich kochte ich.“
Die Altbundeskanzlerin stellt ihre Memoiren, die sie zusammen mit ihrer langjährigen Vertrauten Beate Baumann unter dem Titel „Freiheit. Erinnerungen 1954 – 2021“ geschrieben hat, im Deutschen Theater in Berlin vor. Der Abend wird moderiert von der Journalistin Anne Will. Der Verlag Kiepenheuer & Witsch schreibt zu dem fast 740 Seiten starken Buch, es biete „einen einzigartigen Einblick in das Innere der Macht“.
Anders als zu ihrer 16 Jahre langen Amtszeit lässt Merkel an einigen Stellen des Buches Blicke hinter die Kulissen der Politik zu. Große Überraschungen sind nicht zu finden, ebenso wenig wie Eingeständnisse von gravierenden Fehlern in Bereichen, in denen ihr viel Kritik entgegengeschlagen ist.
Dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) sagte Merkel, sie halte keine ihrer Entscheidungen in den verschiedenen Krisen während ihrer Amtszeit für einen klaren Fehler. Sie nehme die Kritik etwa an ihrer Russland-, Flüchtlings-, Corona- und Digitalisierungspolitik zur Kenntnis, aber: „Ich mache keinen Rückzieher von meinen Entscheidungen.“ Sie zeigte sich zudem betrübt, dass oft der Wille fehle, sich in die Umstände ihrer Amtszeit zurückzuversetzen.
Aufsehen erwecken ihre Memoiren unter anderem jetzt damit, dass Merkel anders als etliche Unionspolitiker für eine Reform der Schuldenbremse zugunsten von Zukunftsinvestitionen plädiert. „Die Idee der Schuldenbremse mit Blick auf nachfolgende Generationen bleibt richtig. Um aber Verteilungskämpfe in der Gesellschaft zu vermeiden und den Veränderungen im Altersaufbau der Bevölkerung gerecht zu werden, muss die Schuldenbremse reformiert werden, damit die Aufnahme höherer Schulden für Zukunftsinvestitionen möglich wird.“
Deutschland müsse damit „umgehen, dass es durch die hohen unabdingbaren Verteidigungsausgaben zu Konflikten mit anderen Politikbereichen kommen wird“, warnt Merkel. Klar sei, dass Ausgaben in Höhe von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für den Verteidigungshaushalt nicht ausreichten. Um zugleich den Wohlstand zu erhalten, bedürfe es Ausgaben in Forschung und Entwicklung von mindestens 3,5 Prozent des BIP. Zudem sei viel Geld für die Entwicklungszusammenarbeit und die Transformation zum klimaneutralen Leben und Wirtschaften bis 2045 nötig.
Die 2009 im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse verbietet Bund und Ländern weitgehend, ihre Haushalte mit Hilfe neuer Kredite zu finanzieren. Während für die Länder ein absolutes Verschuldungsverbot gilt, ist dem Bund eine Nettokreditaufnahme in Höhe von maximal 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts gestattet. Es gibt Ausnahmen von der Schuldenbremse, etwa in bestimmten Notlagen.
Vor der geplanten vorgezogenen Bundestagswahl am 23. Februar dürfte der Union Merkels Forderung nicht sehr gelegen kommen, CDU/CSU pochen seit Langem auf die Einhaltung der Schuldenbremse. Unions-Kanzlerkandidat und CDU-Chef Friedrich Merz hatte aber kürzlich erklärt, die Schuldenbremse sei ein technisches Thema und selbstverständlich zu reformieren. Die Frage sei, wozu. Offen zeigte er sich für eine Reform, wenn diese etwa Investitionen, dem Fortschritt oder den Lebensgrundlagen der jungen Generation diene.
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