Der AOK Bundesverband sieht die pharmazeutischen Dienstleistungen (pDL) kritisch – nicht nur wegen der zusätzlichen Ausgaben, sondern wegen des unklaren Nutzens. Viel lieber sollten die Kassen die Medikationsanalyse übernehmen.
Laut Dr. Sabine Richard, Geschäftsführerin beim AOK Bundesverband für den Geschäftsbereich Versorgung, ist die Medikationsanalyse mit Blick auf das Problem der Polymedikation durchaus sinnvoll. Die Frage sei nur, was angesichts des Aufwands und der Kosten dann mit den Informationen passiere. „Wie wird das in den Therapieablauf eingebracht? Wer steuert die Versorgung, wenn mehrere Ärzte beteiligt sind? Wer entscheidet, welches Medikament weggelassen wird?“
Die Medikationsberatung in der Apotheke könne einen Beitrag leisten, aber es gebe keine Gewähr für eine Umsetzung. Daher lautet eine Forderung für die für das kommende Jahr geplante Strukturreform, sich die pDL noch einmal genau anzusehen: „Was ist daraus geworden? Wo müssen wir nachsteuern?“
Helmut Schröder, stellvertretender Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO), sieht es ähnlich: Der Weg über die Stammapotheke sei zwar eine Möglichkeit – sobald aber mehrere Apotheken und Ärzte an der Versorgung teilnähmen, werde unter Umständen nur noch ein ausgewähltes Spektrum sichtbar. Sein Vorschlag: Die Krankenkassen sollten die „Pharmakotherapieberatung“ übernehmen. Denn bis auf den OTC-Bereich lägen den Kassen alle Daten vor.
Die Ergebnisse der Analyse wolle man dann mit den Behandelnden teilen. „Unser Wunsch ist es, dass wir in die Verwaltungssysteme der Praxen und Apotheken kommen.“ Aus seiner Sicht gibt es aber weniger ein Erkenntnisproblem, sondern vielmehr ein Umsetzungsproblem. „Wir müssen stärker in den Austausch mit den Patienten gehen und dabei die Digitalisierung nutzen.“
Dass Medikationsanalysen notwendig sind, teilt man auch bei der AOK: „Viele ältere Menschen nehmen aufgrund verschiedenster Erkrankungen und Beschwerden mehrere Arzneimittel täglich ein. Bei fünf oder mehr verschiedenen Medikamenten pro Tag spricht man von Polypharmazie. Diese birgt zahlreiche Risiken“, so Professor Dr. Petra Thürmann von der Universität Witten/Herdecke und Mitherausgeberin des Arzneimittel-Kompass 2022.
Lag der Verordnungsanteil für ältere Patienten ab 65 Jahren im Jahr 2012 im Mittel noch bei 3,9 verschiedene Medikamenten, so waren es im Jahr 2021 laut Bericht im Mittel bereits 4,4 Medikamente pro Tag. Somit sei weit mehr als die Hälfte der älteren Patientinnen von Polypharmazie betroffen.
Nach der neuen Priscus-2.0-Liste erhielt im Jahr 2021 knapp die Hälfte (49,5 Prozent) der insgesamt 16,4 Millionen älteren GKV-Versicherten mindestens ein potenziell unangemessenes Medikament (PIM) verordnet. „Hinzu kommt, dass die den Leitlinien zugrundeliegenden Studien multimorbide und gebrechliche Patientinnen meist ausschließen, so dass auch die Evidenz für den Nutzen in dieser Population nicht gesichert ist“, so Thürmann.
Um diese hohe Quote zu senken, will das WIdO die Priscus-2.0-Liste demnächst kostenfrei zur Verfügung stellen. „Das stellt den Transfer in die Praxis sicher“, so Schröder. Er hofft, dass entsprechende Verordnungen dadurch in den kommenden zehn Jahren deutlich reduziert werden können.
Ein weiteres Ergebnis des Reports ist, dass neue Medikamente immer mehr kosten, aber davon nicht mehr Menschen profitieren. „Es wird immer mehr Geld für eine immer geringere Versorgungsreichweite ausgegeben“, so Schröder. Bei 61,5 Prozent der Patientengruppen habe sich im AMNOG-Bewertungsverfahren kein Zusatznutzen gegenüber der Vergleichstherapie gezeigt. Noch nicht einmal bei 40 Prozent der untersuchten Gruppen könne eine Verbesserung der Behandlungsqualität erwartet werden. In den letzten zehn Jahren habe die GKV aber 16,6 Milliarden Euro für diese Arzneimittel ohne jeglichen Zusatznutzen ausgegeben. „Damit führen eine Vielzahl von aufwändigen Forschungsvorhaben der Pharmazeutischen Industrie bis zur Einführung eines neuen Arzneimittels nicht zu einer verbesserten Versorgung.“
Weitere Prioritäten für die Gesetzgebung sind für die AOK laut Richard daher – neben dem Biosimilar-Austausch in der Apotheke – weitere Verschärfungen des AMNOG-Verfahrens: „Der verhandelte Erstattungsbetrag muss rückwirkend zum Markteintritt gelten. Für einen angemessenen Preis von Beginn an sollte ein Interimspreis als vorläufiger Abrechnungsbetrag für jedes neue Arzneimittel festgelegt werden.“
Mit dem gerade verabschiedeten Sparpaket (GKV-FinStG) seien zwar einige Stellschrauben in die richtige Richtung gedreht worden. „Insgesamt greife es aber zu kurz“, so Richard. Unverständlich sei, weshalb die breite Forderung nach der Absenkung der Mehrwertsteuer für Arzneimittel auf sieben Prozent weiterhin unberücksichtigt bleibe. Dies hätte auch langfristig zu einer großen Entlastung beigetragen. Bereits ab 2024 stelle sich die Finanzierungsfrage erneut.
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