„Alle denken, Digitalisierung würde bedeuten, dass alles immer schneller wird“, sagt Professor Dr. Viktor Mayer-Schönberger. „Aber Geschwindigkeit ist das unwichtigste, was wir über das Datenzeitalter sagen können.“ Bei der Digitalkonferenz VISION.A von APOTHEKE ADHOC erklärt Schönberger, was stattdessen wichtig ist und wie Big Data unsere Art verändert, Wissen zu erschaffen und anzuwenden.
„Waren Sie schon einmal auf einer Konferenz über Leitz-Ordner?“, fragt Mayer-Schönberger. Sicher nicht. Dabei hat der Leitz-Ordner einst die Geschwindigkeit der Datenablage revolutioniert – aber darum geht es eben nicht. Denn die entscheidende Revolution im digitalen Zeitalter ist nicht die Geschwindigkeit der Datenübertragung, sondern die schiere Masse der Daten und welche Möglichkeiten diese eröffnen. „Big Data ermöglicht uns einen besseren Blick auf die Wirklichkeit und darauf aufbauend bessere Entscheidungen zu treffen.“
Mayer-Schönberger ist Professor am Internet Institute der Universität Oxford und einer der meistgefragten Experten für die Regulierung des datengetriebenen Kapitalismus. Am bekanntesten ist sein Bestseller „Big Data“, in dem er Millionen Lesern zeigte, wie die technische Revolution in der Datenerhebung und -verarbeitung unsere Weise zu leben, arbeiten und denken verändert. In seinem neuesten Werk „Das Digital“ legte er zuletzt ein Manifest für die digitale Wirtschaft des 21. Jahrhunderts vor, in dem er Forderungen nach Regeln und Regulation der datengetriebenen Marktwirtschaft formulierte.
Allein die schiere Masse der heute generierten Daten verdeutlicht die Möglichkeiten, von denen Mayer-Schönberger spricht. Zwischen 1987 und 2007 hat sich die Masse der weltweit vorhandenen Daten verhundertfacht, seitdem verdoppelt sie sich alle anderthalb Jahre. Der bisher einzige derartige Wissenssprung in der Geschichte der Menschheit war die Erfindung des Buchdrucks. Damals hatte sich die Datenmenge ebenfalls verdoppelt – innerhalb von 50 Jahren. Noch deutlicher zeigt sich der Wandel an den Datenträgern: Im Jahr 2000 waren drei Viertel der Daten analog, heute ist es weniger als ein Prozent.
„Innerhalb einer halben Menschheitsgeneration hat sich unsere Welt von einer analogen in eine digitale verwandelt“, fasst Mayer-Schönberger zusammen. „Unsere Eltern mussten sich noch auf Gerüchte und Ideologien verlassen, wir hingegen können Fakten sammeln.“ Doch was tun wir mit dieser Masse an Informationen? Da beginnt das Problem: „Etwa 85 Prozent der in Europa erhobenen Daten werden niemals verwendet. Das ist datenökologischer Wahnsinn!“ Denn von Wissenschaft über Politik bis Wirtschaft wissen viele noch nicht, wie sie mit den Daten umgehen sollen. „Wir müssen die Frage-Daten-Antwort-Sequenz umdrehen: Bei den Daten anfangen, Antworten sehen und darauf aufbauend lernen, die richtigen Fragen zu stellen“, fordert er.
Und Mayer-Schönberger weiß das zu illustrieren. Die Sprachlern-App Duolingo beispielsweise habe Erkenntnisse zutage gebracht, auf die Wissenschaftler aus der Linguistik niemals gekommen sind, „weil meine Kollegen in Oxford mit einer Handvoll Studenten experimentieren, während Duolingo die Daten einem Dutzend Millionen Nutzern am Tag auswerten und Korrelationen erkennen kann, ohne vorher Fragen zu stellen.“ Doch dasselbe Prinzip ermöglicht noch viel existentielleren Nutzen: Mayer-Schönberger erklärt die Arbeit von Dr. Caroline McGregor.
Die hat sich der Behandlung von zu früh geborenen Kindern gewidmet. Deren häufigste Todesursache sind Infektionen, McGregor hat ein System entwickelt, Infektionen bei Frühchen vorherzusagen. Dabei ist sie gar keine Medizinerin, sondern Informatikerin. McGregor hat standardisiert Daten Vitaldaten von Frühchen erhoben und sie nach Korrelationen ausgewertet. Das ermöglichte, potentiell tödliche Infektionen bereits im Vorfeld zu erkennen und Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Das spektakuläre Learning: „Die Korrelation, die eine Infektion ankündigte, widersprach der gesamten Orthodoxie der Pädiatrie.“ Es handelte sich nämlich um eine spontane Normalisierung der Vitaldaten, auf die kein Kinderarzt ansonsten geachtet hätte. Konterintuitives Handeln ist hier das Zauberwort.
Und so widersprüchlich es klingen mag: Die Masse der Daten begünstigt insbesondere die individualisierte Behandlung. „Die komplette Sequenzierung meiner DNA kostet heute 200 Dollar“, sagt Mayer-Schönberger. „Diese Datengrundlage ermöglicht es heute, viel spezifischer zu diagnostizieren und zu behandeln. Wir können weiter evidenzbasiert arbeiten, aber dabei auf das Individuum fokussiert.“ Er fordert deshalb einen Paradigmenwechsel auch in der Medizin, weg von den Standardtherapien, hin zur personalisierten Medizin. Auf den Punkt gebracht: „Der Durchschnittspatient ist tot.“
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