Lieferengpässe

Liese: „Das ist ein Skandal – deshalb müssen wir etwas tun“

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Berlin -

Die anhaltende Knappheit von Arzneimitteln stellt nicht nur für Patientinnen und Patienten ein großes Problem dar, sondern auch für das gesamte medizinische Personal. Europa hat diese Krise zwar nicht verursacht, kann jedoch bei der Lösung helfen. Am Dienstag will die Europäische Kommission einen Vorschlag zur Bekämpfung der Knappheit bei kritischen Arzneimitteln vorlegen. Dr. Peter Liese, Arzt und Mitglied des Ausschusses für Gesundheit im Europäischen Parlament, sowie Gabriele Regina Overwiening, Präsidentin der Apothekerkammer Westfalen-Lippe (AKWL), diskutierten über die Notwendigkeit, wirksame Maßnahmen zu ergreifen, um die langfristige Versorgung mit essenziellen Medikamenten zu sichern.

„Das Thema ist ein riesiges Problem für die Menschen, die immer wieder hören, dass das Medikament nicht verfügbar ist.“ Aber auch das medizinische Personal habe ein Problem: Denn teilweise würden 50 Prozent ihrer Arbeitszeit mit dem Händeln von Lieferengpässen verbracht. „Sie hören in der Apotheke, dass das Medikament nicht lieferbar ist, sie hören es im Krankenhaus“, erklärt Liese.

Er selbst habe es insbesondere im Kinderkrankenhaus Paderborn zu spüren bekommen: Dort seien mindestens zwei Patient:innen auf der überfüllten Station gewesen, weil es keinen Antibiotikasaft gab. „Das war nicht nur ein rein deutsches, sondern ein europäisches Problem“, erklärt er. „Deshalb müssen wir hier etwas tun. Das ist ein Skandal“, erklärt er. Der Grund sei die starke Fokussierung auf die Kosten, so Liese. Dadurch habe sich die Herstellung in Drittstaaten verlagert. Mit dem Critical Medicines Act wolle man die Lieferketten unabhängiger machen.

Mit dem Pharmapaket habe die EU ihren Fokus auf innovative Arzneimittel gerichtet. Man begrüße, dass mit dem Critical Medicine Act nun der Fokus an eine andere Stelle liegt, erklärt Overwiening. Häufig werde geglaubt, dass es sich bei kritischen Medikamenten nur um Arzneimittel handele, die bei lebensbedrohlichen Erkrankungen eingesetzt werden, doch das sei mitnichten so. Aktuell seien laut BfArM rund 500 Arzneimittel nicht lieferfähig.

Fokus weg von reinen Kosten

Bei der Betrachtung eines Medikaments werde ausschließlich gesehen, was das den Staat koste, was es das Sozialsystem koste – ‚das muss doch günstiger gehen‛, sei das Credo, kritisiert sie. Man schaue gar nicht, was das gesamtwirtschaftlich und gesellschaftlich bedeute. „Arzneimittel sind einfach ein wesentlicher Bestandteil einer erfolgreichen Therapie einer Erkrankung. Das war für uns immer selbstverständlich, dass sie immer verfügbar waren, dass wir gar keine Sensibilisierung dafür haben“, erklärt sie. Es werde nur auf die Kosten geschaut.

Rund 80 Prozent der Abgabe würden Generika betreffen, die aber nur 20 Prozent der Kosten ausmachen. „Wir haben beispielsweise aktuell mit Salbutamol, einem Inhalationsmedikament, zu kämpfen. Das ist ein Standardmedikament, das wir immer in Hülle und Fülle hatten, aber gerade eben nicht. Es wird nun aus den USA importiert, was mehr als doppelt so teuer ist, wie die Medikamente, die in Deutschland zur Verfügung standen.“

Auch im Managen von bestehenden Lieferengpässen müsse sich etwas ändern. „Wie können wir die Kompetenzen anpassen, damit man die Expertise am Point of Care nutzt und keine Folgekosten entstehen?“, so Overwiening. Wenn die Therapie trotz eines Engpasses durch Abgabe einer Alternative sofort begonnen werden kann, werde auch das Vertrauen in das Gesundheitssystem gesichert. Würden Patienten ständig nur hören, dass ihr Medikament nicht geliefert werden könne und ein anderes aufgrund der Kosten nicht abgegeben werden dürfe oder dass sie erst Rücksprache halten müssen, wären das immer unglückliche Momente, so Overwiening.

Aktuell müsse ein Apotheker bei einem Engpass stets Rücksprache halten und ein neues Rezept beim Arzt anfordern, bevor eine Alternative abgegeben werden dürfe. Das koste Zeit und verzögere im schlimmsten Fall den Therapiestart. „Da brauche ich mein Rüstzeug. Die Expertise ist da, nur die Erlaubnis in vielen Fällen nicht“, so Overwiening.

„In Brüssel ist dieses Thema Chefsache. Das ist es leider in Berlin bisher nicht“, kritisiert Liese. „Die Kommission wird nun liefern“, ist Liese überzeugt. Er selbst habe noch keinen Entwurf gesehen, aber er habe ein gutes Gefühl. Es gehe um ein Gesetz, das fünf Elemente umfassen müsse:

  • Erleichterung der Zulassung innerhalb der Europäischen Union: „Das muss schnell gehen. Es kann nicht sein, dass es zehn Jahre dauert, bis wir eine Fabrik haben“, erklärt Liese. „Das ist einfach zu lange.“
  • Für bestimmte Arzneimittel europaweit abgestimmte Lagerbestände: „Es ist wichtig, dass das nicht jedes Mitgliedsland für sich macht“, erklärt er. Eine Gemeinsame Lösung wäre kostengünstiger.
  • Internationale Kooperation: „Sehr viel Arzneimittelproduktion soll aus China und Indien zurückgeholt werden, aber wir werden sicher nicht 100 Prozent zurück holen können“, erklärt Liese. Deshalb müsse man hier diversifizieren. Es sei beispielsweise besser, einen Teil aus Brasilien zu beschaffen, statt alles aus China.
  • Gemeinsame Beschaffung von Arzneimitteln in den Vordergrund stellen: Dass die EU gemeinsam Medikamente beschaffe, sei bereits aus der Corona-Pandemie mit Impfstoffen bekannt. Gerade für kleinere Mitgliedstaaten sei das notwendig, für die größeren Mitgliedstaaten würde hierbei keine Erleichterung entstehen.
  • Es müsse sich dauerhaft lohnen, Medikamente in der EU herzustellen: „Dies ist aus meiner Sicht der wichtigste Punkt. Wie bereits erwähnt, ist das Problem dadurch entstanden, dass die Produktion in Europa nicht ausreichend honoriert wurde. Es muss von den Kostenträgern, zum Beispiel den Krankenkassen in Deutschland, honoriert werden, wenn Medikamente in der EU produziert werden.“ Liese lobt zwar das Engpassgesetz von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), das Boni für die Herstellung von Arzneimitteln in der EU vorsehe. Allerdings gebe es zwei Probleme: Erstens betreffe der Zuschlag nur einige der kritischen Arzneimittel, und zweitens bringe es wenig, wenn diese Boni nur in Deutschland gewährt werden. Liese fordert daher dringend ein EU-weites Konzept, bei dem alle Mitgliedstaaten einen Bonus für die Herstellung gewähren. „Gemeinsam wäre man eine relevante Marktmacht“, betont Liese.

Nicht an der falschen Stelle sparen

Bei der Frage nach den Kosten von Investitionen und Zuschlägen erklärt Liese: Erstens gehe es um die preiswerten Arzneimittel, die knapp sind. „Ein Antibiotikasaft für Kinder kostet nur 2 bis 3 Euro. Laut Studien würden bei einer Europaherstellung die Kosten rund 40 Prozent höher liegen – also 80 Cent bis ein Euro mehr.“ Aber, so Liese, die unnötigen Krankenhausbelegungen kosteten ebenfalls Geld. Auch wenn die Leistungserbringer ihre Zeit wegen der anhaltenden Engpässe nicht sinnvoll nutzen können, sei das ein volkswirtschaftlicher Schaden.

„Eine Flasche Saft, die wir nicht haben, verursacht rund 900 Euro Mehrkosten. Wer ein bisschen rechnen kann, merkt, dass wir an der falschen Stelle sparen“, erklärt Liese. „Es lohnt sich, hier an der richtigen Stelle zu investieren und nicht an der falschen Stelle zu sparen“, erklärt er abschließend.

Zum Zeitplan erklärte Liese vage, dass bestimmte Prozesse sehr schnell gehen könnten. Verbesserungen werde man aber aufgrund des Signals an den Markt schon in den nächsten Monaten sehen. Auch Overwiening betonte, dass es wichtig sei, dass die EU ein klares Signal setze, besonders für Arzneimittel, die von großen Mengen der Bevölkerung eingenommen werden. „Wenn ein Hersteller das sieht und hört, hat er eine ganz andere Motivation, diese Medikamente auch wieder hierherzustellen“, betont sie.

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