Die Bezeichnung „systemrelevant“ ist im ersten Pandemiejahr zu einem geflügelten Wort geworden. Apotheken blieben weiterhin geöffnet, da sie zur Kritischen Infrastruktur gehören. Auch bei Impfungen rückten sie ein Stück nach vorn. Im Zusammenhang mit einem möglichen Blackout sind die Schwellenwerte für einen „bedeutenden Versorgungsgrad“ allerdings für öffentliche Apotheken nicht zu erreichen.
„Kritische Güter und Dienstleistungen sind von hoher Bedeutung für das Funktionieren des Gemeinwesens, weil durch ihren Ausfall oder ihre Beeinträchtigung erhebliche Versorgungsengpässe oder Gefährdungen für die öffentliche Sicherheit eintreten würden. Auch die Abgabe von Arzneimitteln wurde als kritische Dienstleistung bewertet“, so das Bundesgesundheitsministerium (BMG) auf Nachfrage. Deshalb zählen auch Apotheken zur kritischen Infrastruktur. „Gefährdungen im zuvor genannten Sinne sind allerdings erst bei Anlagen über dem festgelegten Schwellenwert gegeben“, so die Sprecherin weiter.
Der angesprochene Schwellenwert ist in der BSI-Kritisverordnung (Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik) festgelegt. Demnach müsste eine Apotheke 4,65 Millionen Packungen verschreibungspflichtiger Arzneimittel pro Jahr abgeben, um einen „bedeutenden Versorgungsgrad“ zu erreichen. Der Wert ergibt sich aus der „Annahme eines Durchschnittsverbrauchs von 9,3 Packungen verschreibungspflichtiger Arzneimittel pro versorgter Person pro Jahr und eines Regelschwellenwertes von 500.000 versorgten Personen“.
Wer hat diese utopische Grenze errechnet – und warum? „Der Schwellenwert für die öffentlichen Apotheken entspricht dem Schwellenwert der übrigen Arzneimittelhandelsstufen“, so die Sprecherin des BMG, denn für Hersteller und Großhändler gilt derselbe Wert von 4,65 Millionen Packungen.
Im Ministerium weiß man, dass keine Apotheke darunter fällt: „Der Schwellenwert wird von einzelnen Apotheken derzeit nach hiesiger Kenntnis nicht erreicht. Im Hinblick auf die hohe Anzahl der öffentlichen Apotheken und deren bundesweite Verbreitung und dezentrale Organisation erscheint der Schwellenwert sachgerecht. Eine Gefahr für die Versorgung der Bevölkerung oder die öffentliche Sicherheit kann beim Ausfall einer einzelnen Apotheke nicht unterstellt werden“, führt sie weiter aus.
Wie sinnvoll sind Schwellenwerte, die sowieso nicht erreicht werden können? Der Ausfall einer einzelnen Apotheke würde die Versorgung nicht gefährden, aber gerade bei einem flächendeckenden Stromausfall wäre die dezentrale Organisation dementsprechend nachteilig und birgt aus Sicht der Ministerien Gefahren. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) schreibt, dass „die Betreiber von Einrichtungen und Anlagen im Gesundheitswesen in Deutschland in der Regel privatwirtschaftlich organisiert“ sind. Das betreffe sowohl Krankenhäuser, Arztpraxen, Apotheken, Pharmaunternehmen und -großhändler als auch Labore. „Die Vielfalt der Akteure, ihre Verflechtungen und gegenseitigen Abhängigkeiten führen zu einer hohen Komplexität und vielfältigen Abhängigkeiten“.
Die Verordnung des Bundesinnenministerium (BMI) trat schon 2017 im Einvernehmen mit dem BMG in Kraft und wurde auch im Verlauf der Pandemie nicht angepasst. Auf eine Nachfrage bezüglich der Festlegung der Schwellenwerte beim BMI, in dessen Zuständigkeitsbereich die Verordnung ja fällt, wurde an das BMG verwiesen. Das BMG wiederum: „Für weitere Fragen bitte ich Sie, sich an das federführende Bundesministerium des Inneren zu wenden“.
Die zunehmende Abhängigkeit aller Sektoren der Kritischen Infrastruktur von ständiger Stromversorgung ist offensichtlich. Die Digitalisierung verstärkt zusätzlich die Vernetzung und Abhängigkeit untereinander. Deshalb sollten sich die betroffenen Unternehmen mit Stromausfallszenarien befassen – „eine einzelne, spezialisierte Behörde, die mit der Notfallplanung für Stromausfallszenarien befasst ist, gibt es in Deutschland nicht“, so das BBK. Deshalb setzen „staatliche Akteure in Bund, Ländern und Kommunen setzen jeweils in eigener Zuständigkeit Maßnahmen um.“ Dazu gehört laut BBK neben der „Planung der Verteilung von Notstromaggregaten auf kommunaler Ebene“ auch das Thema Stromausfall im betrieblichen Notfallmanagement. Der Deutsche Apothekerverband (DAV) stellte dazu jüngst einen Handlungsleitfaden zur Verfügung.
Während der Corona-Pandemie hatte das Robert Koch-Institut (RKI) das Apothekenpersonal als Personal der kritischen Infrastruktur (KritIs) eingestuft. Daraus resultierte zum Beispiel eine Impfpriorisierung der Mitarbeiter:innen. Trotz der Erfahrungen während der Pandemie, in denen Apotheken versorgungsrelevante Aufgaben wie Maskenausgabe und Testungen übernahmen, wird den Apotheken im Krisenfall weiterhin kein „bedeutender Versorgungsgrad“ zugemessen. Das wird durch die gesetzlich festgelegten Schwellenwerte und dezentrale Organisation wohl auch so bleiben.
Für Unternehmen mit einem bedeutenden Versorgungsgrad, also bei Erreichen beziehungsweise Überschreiten der Schwellenwerte, würde allerdings auch die gesetzlichen Melde- und Nachweispflichten des BSIG gelten, das hieße noch mehr Bürokratie. Trotzdem könnten Förderungen zur Vorbereitung auf und die Verteilung der Notstromaggregate im Krisenfall zum Beispiel mit einem Erreichen der Schwellenwerte zu tun haben.
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