Kommentar

Der 19. Oktober 2016 Alexander Müller, 19.10.2016 10:51 Uhr

Berlin - 

Für die deutschen Apotheken ist der befürchtete Super-GAU eingetreten: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) stellt ausländische Versandapotheken von der Preisbindung frei. DocMorris & Co. werden den Markt jetzt mit Rx-Boni fluten und einen Generalangriff auf die Chroniker-Versorgung starten. Den Apothekern stehen wilde Monate bevor. Ob sie auf die Politik hoffen können, steht in den Sternen. Ein Kommentar von Alexander Müller.

Die Einschüsse waren näher gekommen: Erst die OLG-Vorlage vor dem EuGH, dann die Vorbemerkungen der Luxemburger Richter. Es folgte ein unglücklicher Auftritt des Vertreters der Bundesregierung bei der mündlichen Verhandlung. Als dann der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen eine Aufhebung des Boni-Verbots forderte, wurden selbst Optimisten kleinlaut. Denn der EuGH folgt häufig dessen Einschätzungen.

Die Richter teilen tatsächlich die Einschätzung, dass DocMorris einen Konkurrenzvorteil benötigt, um am deutschen Markt Fuß fassen zu können. Weil Apotheken vor Ort besser beraten können, müssen die Versender die Patienten mit Preisen locken dürfen. Es ist eine einfache Wahrheit: Der Binnenmarkt ist wichtiger als die Versorgung.

Das Argument ist allerdings nicht besonders vorausschauend. Was ist, wenn der deutsche Gesetzgeber jetzt reagiert und die Arzneimittelpreisverordnung (AMPreisV) anpasst? Dann benötigen die EU-Versender wieder einen Vorsprung. Weil sie laut EuGH „ein eingeschränktes Leistungsangebot“ haben. Die Apotheken vor Ort könnten doch jetzt im Wettbewerb mit einem großen Lager und guter Beratung punkten. Das ist mehr als zynisch.

Tatsächlich hat DocMorris schon in der Vergangenheit Rx-Boni geboten – ob das nun gerade legal war oder nicht. Doch die meisten Apothekenkunden wollten das „eingeschränkte Leistungsangebot“ [Zitat: EuGH] eben nicht in Kauf nehmen und gingen weiter in die Apotheke um die Ecke. Mit dem EuGH-Freibrief kommt die Sache jedoch eine ganz andere Dynamik.

Die Kassen werden schon aus ihrer unerklärlichen Missgunst gegenüber den Apothekern ihre Versicherten auf die Boni-Angebote hinweisen und mittelfristig wohl auch Verträge schließen können. Dass die aufwändige Beratung vor Ort eben auch von gut eingestellten Chronikern subventioniert wird, scheint niemanden zu interessieren.

Werden die Apotheken also wirklich abwartend zusehen, wie ihnen DocMorris die Chroniker wegschnappt? Das ist nicht zu erwarten. Sie werden auch wieder Rabatte geben und Ärger mit der Aufsicht in Kauf nehmen. Das gilt für wirtschaftlich starke Apotheken wie von Elac Elysée und insbesondere für die deutschen Versandapotheken. Die haben nämlich sonst alle Nachteile bei sich vereint: die Preisbindung und das eingeschränkte Leistungsangebot.

Wenn die Aufsicht – wie von der ABDA gewünscht – dann gegen Apotheken vorgeht oder sich Konkurrenten gegenseitig verklagen, schwappt die nächste Prozesswelle über den Markt. Bis hier gerichtliche Klarheit herrscht, kann viel passieren.

Und viele Apotheken werden das nicht überleben. Die Konkurrenz aus Holland ist das Eine, die zweite und vielleicht größere Gefahr lauert in der Nachbarschaft: Wenn demnächst der Konkurrent um die Ecke ebenfalls Boni gewährt, sieht die Wettbewerbssituation anders aus. Jeder Vierte würde über Rabatte nachdenken, ergab eine APOSCOPE-Umfrage im Vorfeld des Urteils. Und da waren die meisten noch davon ausgegangen, dass die Preisbindung hält.

Ob diese jetzt im Inland bestehen bleibt, ist mehr als fraglich. Die ABDA hatte einen Plan B zumindest öffentlich verweigert und in der besagten Resolution nur indirekt ein Rx-Versandverbot gebeten. Das wird es aber aller Voraussicht nach nicht geben. Und wenn doch, würde Luxemburg es bestimmt wieder aufheben.

Nein, die Apotheken werden selbst entscheiden müssen, wie sie mit der veränderten Situation umgehen, angesichts ihrer persönlichen Überzeugung und ihrer wirtschaftlichen Kraft. Der Markt wird sich fraglos bewegen, der 19. Oktober 2016 dürfte als Zeitenwende ins Geschichtsbuch der Apotheker Einzug halten. Dass am Ende dieser Verschiebung eine verbesserte Versorgung steht, ist luxemburgisches Wunschdenken.