Kommentar

Angriff auf die Apothekenwahl Alexander Müller, 25.11.2015 09:10 Uhr

Berlin - 

Als Apotheker fährt man mit einem mulmigen Gefühl nach Kassel. Das Bundessozialgericht (BSG) ist für Leistungserbringer oft keine gute Adresse; entscheidet meist im Sinne der Krankenkassen. So mussten sich die Apotheker etwa erklären lassen, dass eine Null-Retaxation zu ihrem Berufsrisiko zählt und dass Zahlungsfristen für Kassen nicht so streng auszulegen sind. Heute geht es um nichts weniger als die freie Apothekenwahl. Sollten die Kassen erneut gewinnen, könnte ihre Machtfülle ungeahnte Dimensionen annehmen. Ein Kommentar von Alexander Müller.

Die AOK Hessen will sparen. Das ist ihr gutes Recht und im Sinne ihrer Versicherten sogar ihre heilige Pflicht. Und da sich das Instrument der Ausschreibung bei Generika bewährt hat, zusätzliche Einsparungen dort aber kaum mehr zu realisieren sind, verfallen die Kassen auf andere Bereiche. Dazu zählt die Versorgung mit Sterilrezepturen. Das ist auf den ersten Blick naheliegend, war das Geschäft für spezialisierte Apotheken doch früher wenn nicht eine Goldgrube, so zumindest eine Silbermine.

Auch wenn sich die Margen der Zytoapotheken deutlich verschlechtert haben, klingen die enormen Umsätze für Kassen offenbar noch immer verlockend. Sie führen übrigens auch zu den gängigen Vorurteilen gegenüber den spezialisierten Pharmazeuten. Selbst wenn es unter ihnen mehr schwarze Schafe geben sollte als in der pharmazeutischen Durchschnittsherde – dass der komplette Markt ein Sumpf quasi-mafiöser Strukturen ist, zählt zu den Spukgeschichten und Grillen in den Betrugsdezernaten der Krankenkassen.

Das hat mit dem Fall in Kassel nichts zu tun, ist aber Folie und Hintergrund des Verfahrens, erklärt aber das harte Einsteigen der AOK. Die Kasse hat rund ein Dutzend Apotheker retaxiert, weil sie Krebspatienten versorgt haben ohne selbst Vertragspartner zu sein. Es geht insgesamt um einen zweistelligen Millionenbetrag. Die Kasse wollte nicht dulden, dass ihre Ausschreibung von Ärzten, Apothekern und Patienten unterwandert wird.

Doch die horrenden Kürzungen gegenüber den Apothekern sind nur ein Aspekt, der monetäre. Mindestens ebenso wichtig dürfte der Kasse die Machtfrage sein. Ihre Reaktion auf das drohende Scheitern der Rabattverträge ist bedenklich: Sie entzieht ihren Versicherten das Recht der freien Apothekenwahl. Das ist gewissermaßen ein sozialrechtliches Grundrecht, an das die AOK Hessen mit ihren Retaxationen die Axt gelegt hat. Wenn die Kasse in Kassel obsiegt, könnte die Versuchung weitergehender Selektivverträge unwiderstehlich werden.

Die Sozialgerichte in Marburg und Darmstadt haben in der Vorinstanz jeweils dem Apotheker recht gegeben und die AOK mit deutlichen Worten in die Schranken gewiesen: Ohne ausdrückliche Regelung im SGB V könne die Kasse kein exklusives Versorgungssystem einrichten und damit „fundamental“ in Patienten- wie Leistungserbringerrechte eingreifen. Nur weil im Zyto-Bereich das Zuweisungsverbot nicht gelte, sei das Wahlrecht des Patienten nicht automatisch aufgehoben.

Und bei dieser Wahl geht es eben auch um Qualität. Der Patient muss schnell versorgt werden. Er profitiert von einem eingespielten Team aus Arzt und Apotheker. Und dabei hilft räumliche Nähe, persönlicher Kontakt. Man kann dahinter immer gleich eine ungesunde Fraternisierung vermuten, gar Korruption, wenn man besonders misstrauisch ist. Man kann das aber auch menschlich oder pragmatisch sehen – das hängt vermutlich auch vom eigenen Selbstbild ab.

Ein Sozialgericht hatte den Wert des Patientenwahlrechts zusätzlich mit der Qualität der Versorgung begründet. Während die retaxierte Apotheke die Zubereitungen selbst herstelle, beziehe die Vertragsapotheke der Kasse die Präparate von einem externen Hersteller. Das Gericht war überzeugt, wer von beiden über ein überlegenes Wissen verfügt und im Zweifel Fragen kompetenter beantworten kann.

Die Kasse hätte aus Sicht der Vorinstanzen die Ärzte überzeugen müssen, dass ein Wechsel der Apotheke wirtschaftlich sinnvoll sei. Selbst daran hatten die Richter übrigens Zweifel. Dass die Selektivverträge zu einer Monopolisierung führen und die Kosten mittelfristig in die Höhe treiben könnten, hielten die Richter für eine plausible Entwicklung.

Das alles sind kluge Gedanken, das BSG wird sie sich hoffentlich heute zu eigen machen. Dann könnten die Apotheker künftig mit einem besseren Gefühl nach Kassel fahren. Und die Kassen würden lernen, dass ihr Spardiktat nicht jedes andere Recht außer Kraft setzt. Ausschreibungen im Zyto-Bereich sind und bleiben grundsätzlich zulässig. Das darf aber nicht dazu führen, dass sich die Kassen alles erlauben können.