Koalitionskrach

Protest: Knieps verlässt die SPD Lothar Klein, 07.07.2016 12:06 Uhr

Berlin - 

Eigentlich handelte es sich nur um eine kleine Korrektur im undurchsichtigen Gestrüpp des Finanzausgleichs der Krankenkassen. Jetzt hat sich daraus ein veritabler politischer Knatsch entwickelt – in der SPD und zwischen den Gesundheitspolitikern der Koalition. Die bisherige Harmonie ist Futsch. Mehr noch: Die SPD hat mit Franz Knieps, dem Vorstand des Dachverbandes der Deutschen Betriebskrankenkassen (BKK), ein einflussreiches Mitglied verloren. Der ehemalige Berater von Ulla Schmidt setzt mit seinem Austritt ein Zeichen des Protestes.

Beim Streit geht es vordergründig um eine gerechtere Verteilung der Mittel aus dem Gesundheitsfonds und um vergleichsweise wenige Millionen im milliardenschweren Topf des Risikostrukturausgleichs (Morbi-RSA). Es geht aber auch um Grundsatzfragen und politische Einflussnahme – und das birgt politischen Zündstoff.

Der Gesetzgeber hat die Berechnungsgrundlagen für Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds für Krankengeld und Versicherte, die im Ausland wohnen, zum 1. August 2014 geändert. Das Bundesversicherungsamt (BVA) hatte die Berechnungsgrundlagen daraufhin jedoch rückwirkend auch schon ab dem Jahr 2013 angewendet. Dagegen hatten die AOK-Rheinland/Hamburg geklagt und vor dem Sozialgericht in Nordrhein-Westfalen (NRW) Recht bekommen. Mit einem gesetzgeberischen Eingriff wollte Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) die Regelung rückwirkend in Kraft setzen und die Gerichte aushebeln.

Bereits vor Wochen hatte SPD-Fraktionsvize Professor Dr. Karl Lauterbach den Widerstand der SPD zu Protokoll gegeben: „Das ist sehr problematisch und ein gravierender Eingriff“, so Lauterbach Mitte Juni. „Rückwirkende Änderungen halte ich für sehr gefährlich.“ Als Kompromiss schlug Lauterbach vor, dass die von der Fehlberechnung im Jahr 2013 insbesondere betroffenen AOK und Betriebskrankenkassen keine nachträglichen Korrekturen hinnehmen müssten. Die dadurch entstehenden Mehrkosten in Höhe von 400 Millionen Euro sollten aus den Rückstellungen des Gesundheitsfonds beglichen werden. So weit so gut.

In der gestrigen Sitzung des Gesundheitsausschusses distanzierte sich Lauterbach plötzlich von sich selbst und blockierte den Kompromiss, obwohl es zwischen SPD und Union schon Einvernehmen gab. Am Freitag sollte alles im Bundestag unter Dach und Fach gebracht werden. Daraus wird nun nichts. Die Morbi-RSA-Korrektur wurde aus dem Transplantationsregister-Gesetz gestrichen.

Mächtige Lobbygruppen aus NRW sollen Gerüchten zufolge daran gearbeitet haben. Danach soll sich sogar Ministerpräsidentin Hannelore Kraft bei Parteichef Sigmar Gabriel für die Interessen der AOK Rheinland/Hamburg eingesetzt haben. Auch Schmidt stellte sich öffentlich frontal gegen ihren Amtsnachfolger Gröhe: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass das diese Woche verabschiedet wird“, so die frühere Gesundheitsministerin und heutige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. „Ich habe Schwierigkeiten mit rückwirkenden Eingriffen“, sagt Schmidt.

Der Aachener Wahlkreis von Schmidt liegt bekanntlich ebenso in NRW wie der von Lauterbach (Köln). In NRW stehen im kommenden Mai für die SPD vorentscheidende Landtagswahlen vier Monate vor der nächsten Bundestagswahl an. Und die AOK ist ein politischer Faktor zwischen Rhein und Ruhr.

Jetzt ist der Ärger riesengroß und für Knieps nach 34 Jahren Mitgliedschaft Schluss mit der SPD. Für die Sozialdemokraten ist das ein herber Verlust. Knieps war von 2003 bis 2009 Leiter der Abteilung „Gesundheitsversorgung, Krankenversicherung, Pflegeversicherung“ im Bundesgesundheitsministerium und gilt heute als einer der sachkundigsten und am besten vernetzten Gesundheitsexperten der Republik.

Gegenüber der Stuttgarter Zeitung begründete Knieps seinen Austritt mit „mangelnder Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit“ der SPD-Politik. Geschehnisse rund um die Reform des Morbi-RSA hätten das Fass zum Überlaufen gebracht. „Von oben durchgedrückt worden“ sei hier „ein Eingriff zu Gunsten einer Einzelkasse“, schimpft er. Die AOK Rheinland/Hamburg habe „bei der Ministerpräsidentin und dem SPD-Vorsitzenden direkt interveniert“. „So etwas will ich nicht vertreten müssen“, begründete er so seinen Parteiaustritt. Denn anders als die AOK gehören die Betriebskrankenkassen wie auch die Barmer GEK zu den Verlierern der jetzt zunächst auf Eis liegenden Morbi–RSA-Korrektur.

Schlechte Laune herrscht aber nicht nur in der SPD. Der Vorgang belastet auch das bisher harmonische Miteinander der Gesundheitspolitiker von SPD und Union: Für den CDU-Gesundheitspolitiker Michael Hennrich ist Lauterbachs Salto-Rückwärts in letzter Sekunde ein „beispielloser Skandal“. Aus „purer Parteinahme für eine Kasse wird am Sachverstand der eigenen Partei vorbei ein Einzelinteresse durchgedrückt“, so Hennrich laut Stuttgarter Zeitung.