Kassen bieten 1,6 Prozent – Ärzte kochen vor Wut Patrick Hollstein, 15.08.2024 13:37 Uhr
Ab 2027 sollen Deutscher Apothekerverband (DAV) und GKV-Spitzenverband über das Apothekenhonorar verhandeln – Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) geht davon aus, dass es dann nach oben geht, so wie in anderen Bereichen auch. Als Vorbild gilt die Ärzteschaft, die regelmäßige Milliardenbeträge obendrauf bekommt. Allerdings äußern sich die Ärzteverbände zu Beginn der aktuellen Verhandlungsrunde von Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) und den Kassen skeptisch – weil das erste Angebot aus ihrer Sicht viel zu niedrig ist.
Zum gestrigen Start der Honorarverhandlungen zwischen Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) und dem GKV-Spitzenverband haben die Kassen eine Erhöhung des Orientierungswertes, nach dem sich die Preise für alle vertragsärztlichen und psychotherapeutischen Leistungen berechnen, um 1,6 Prozent angeboten. Zum Vergleich: Im vergangenen Jahr hatte man sich auf 3,85 Prozent geeinigt, das entsprach rund 1,8 Milliarden Euro. In einigen Ländern hatte man sich auf noch mehr verständigt, in Baden-Württemberg etwa auf 6,1 Prozent bezogen auf den budgetierten Teil der Gesamtvergütung.
Der Vorstand der KBV reagiert „enttäuscht“ auf die erste Runde im Bewertungsausschuss, zumal der Sitzung bereits zahlreiche vorbereitende Treffen auf der Arbeitsebene vorausgegangen waren. „Wie ein roter Faden zieht sich durch, dass die Kassenseite die ärztliche Leistung überhaupt nicht berücksichtigen will im Rahmen der Anhebung des Orientierungswertes. Sie verweist auf hohe finanzielle Belastungen, die ihr durch Krankenhausreform und andere gesetzgeberische Maßnahmen aufgebürdet würden. Doch das kann und darf nicht das Problem der Praxen sein und geht schon mal gar nicht. Immerhin scheint es eine Annäherung bei den sogenannten technischen Leistungen zu geben, worunter unter anderem die Personalkosten der Medizinischen Fachangestellten fallen“, so die Vorstände Dres. Andreas Gassen, Stephan Hofmeister und Sibylle Steiner in einer gemeinsamen Erklärung.
Deutlicher wird die Kassenärztliche Vereinigung (KV) Hessen: „Das, was den Kassen an Erhöhung vorzuschweben scheint, ist nicht nur nicht ausreichend, sondern meilenweit von einem akzeptablen Angebot entfernt“, so KV-Vize Armin Beck. „Während in den vergangenen Jahren angesichts des allgemeinen Preisanstiegs die Betriebs- und Personalkosten in den Praxen explodiert sind, wurde uns ein angemessener Ausgleich mit Blick auf die gesetzlichen Vorgaben und die retrospektiv ausgerichtete Berechnungssystematik verweigert.“
Nun, wo retrospektiv mit Blick auf die enormen Kostensteigerungen der letzten Jahre die Systematik der Finanzierungsverhandlungen endlich eine angemessene Steigerung zulasse, versuchten sich die Kassen mit Verweis auf angeblich leere Konten erneut aus ihrer Verantwortung für die ambulante Versorgung zu stehlen. „Das werden wir weder den Kassen noch der Politik durchgehen lassen.“
Praxen sollen für Kassen bluten
„Die Krankenkassen haben ein an Unverschämtheit nicht zu überbietendes Angebot von 1,6 Prozent Zuwachs vorgelegt“, kommentiert Dr. Jörg Böhme, Vorstandsvorsitzender der KV Sachsen-Anhalt. Begründet worden sei dies mit drohenden finanziellen Belastungen, die durch verschiedene Reformvorhaben und andere gesetzgeberische Maßnahmen auf die Krankenkassen zukommen würden.
„Die Praxen sollen wieder einmal darunter leider, weil die Krankenkassen steigende Kosten in anderen Bereichen befürchten. Das geht so nicht. Die Kostensteigerungen der Praxen müssen endlich vollständig ausgeglichen werden“, so Böhme.
„Das Ergebnis muss ein Prozentsatz sein, der die Kostensteigerungen der Praxen tatsächlich abfedert und die weiter auseinanderdriftende Finanzierungsschere zwischen ambulantem und stationärem Bereich endlich beendet“, fordert Böhme. „Wie bitteschön sollen junge Mediziner dann noch motiviert sein, nach dem Studium vertragsärztlich tätig zu werden, beziehungsweise ältere Mediziner länger als eigentlich nötig zu arbeiten, damit die zur Verfügung stehende Arztzeit nicht immer knapper wird?“
Seine Botschaft: „Steigende Personal-, Praxis- und Investitionskosten, die Inflationsrate, budgetierte Leistungen: Die Praxen brauchen dringend finanzielle Entlastungen. Der Orientierungswert muss dazu einen wichtigen Beitrag leisten.“
Prospektiv statt retrospektiv
Der Hartmannbund hat seine Forderung nach einer grundsätzlichen Reform der Berechnung der Veränderungsrate des Orientierungswertes EBM erneuert: „Es wäre nicht nur der Sache angemessen, sondern würde auch der Selbstverwaltung gut zu Gesicht stehen, wenn wir endlich ein Verfahren entwickeln, dass uns – jedenfalls annähernd – eine prospektive Berechnung einer angemessenen Anhebung ermöglicht“, sagte der Vorsitzende des Arbeitskreises Ambulante Versorgung im Hartmannbund, Dr. Marco Hensel.
Das Festhalten an retrospektiven Mechanismen sei für alle Beteiligten eine unbefriedigende Lösung. Bei künftigen Verhandlungen müssten absehbare Kostenentwicklungen oder besondere Belastungen – analog dem stationären Bereich – Berücksichtigung finden. Eine Gegenfinanzierung von Personal- und Betriebskosten, insbesondere wenn sie für alle Arztpraxen deutlich steigen, müsse zeitnah erfolgen, um steigende Kosten der Praxen adäquat aufzufangen.
Für die aktuellen Verhandlungen forderte Hensel eine Abkehr von „überflüssigen Ritualen“. Das Verhandeln von Selbstverwaltungspartnern im Stile eines Viehmarktes – erst ist man weit auseinander, dann wird gefeilscht und gerungen und am Ende verkündet nach nicht erfolgter Einigung der unparteiische Vorsitzende des Erweiterten Bewertungsausschusses einen unbefriedigenden Kompromiss – könne nicht deren eigener Anspruch sein, so Hensel. Das völlig inakzeptable Auftaktangebot der Kassen in Höhe von 1,6 Prozent unterstreiche diese Forderung.
Ausgleich für MFA-Gehälter
Hensel begrüßte, dass Tarifänderungen bei den Medizinischen Fachangestellten (MFA) künftig – und damit bereits auch für 2025 – direkt in den Verhandlungen berücksichtigt werden. Dies sei ein gutes Beispiel dafür, was vorausschauend möglich sei. Dadurch entstehe kein jahrelanger Verzug, bis diese Kostensteigerungen abgebildet würden.