Ärzte wollen sich „nicht länger verscheißern lassen“ Patrick Hollstein, 15.09.2023 13:44 Uhr
Mit einer Honorarsteigerung von knapp 4 Prozent stehen die Ärztinnen und Ärzte auf den ersten Blick gut da – doch in den Praxen herrscht Wut. Einige Kassenärztliche Vereinigungen (KV) kritisierten das Verhandlungsergebnis als so schlecht, dass sogar der Rückstritt der KBV-Spitze gefordert wurde. Die kündigt nun weitere Proteste an – und kann sich auch gemeinsame Aktionen mit den Apotheken vorstellen.
Die Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) war bereits im Vorfeld als Tag der Entscheidung ausgerufen worden. Bis Dienstag hatte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sich zu einem Forderungskatalog der Mediziner äußern sollen, doch der hatte die Frist einfach verstreichen lassen.
KBV-Chef Dr. Andreas Gassen warnte kritisierte ihn dafür scharf: „Die Nicht-Antwort des Ministers spricht Bände und ist offen gesagt armselig. Sie bestätigt all unsere Befürchtungen, dass dieser Gesundheitsminister nicht nur auf dem ,ambulanten Auge’ blind ist, sondern offenkundig auch völlig taub für die Belange der Praxen.“ Realitätsverweigerung sehe man nicht nur bei den Praxen, sondern auch bei den Apothekerinnen und Apothekern. Da also alle Heilberufe unter den erratischen Aktionen des Minister litten, könne er sich gemeinsame Maßnahmen vorstellen.
Man gewinne den Eindruck, dass Lauterbach mit all seinen „Irrlichtereien“ in einem Paralleluniversum unterwegs sei. „Wer sich auf die Versprechen von Minister Lauterbach verlässt, der ist verlassen.“ Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) zeige kein Interesse mehr an einer konstruktiven Zusammenarbeit mit der Selbstverwaltung – offenbar um wie seinerzeit Ulla Schmidt den Wechsel hin zu einer Staatsmedizin mit der Brechstange durchzusetzen. Bei der nächsten Wahl werde man sehen, ob die Menschen nicht lieber das bestehende System erhalten wollten.
Botschaft wird gehört werden
Damit etwas geschehe, werde man die Patientinnen und Patienten, aber auch die Abgeordneten im Bundestag informieren. „Wir werden dafür sorgen, dass unsere Botschaft gehört wird.“ Wenn es politischer Wille sei, Leistungen zu deckeln, dann müsse man das auch umsetzen: Keine Praxis könne gezwungen werden, Leistungen nach dem Motto „all inclusive“ anzubieten. Solange eine Unterfinanzierung des Systems keine Auswirkungen auf die Versorgung habe, werde sich politisch nichts ändern. Die Geschlossenheit in der Ärzteschaft sei groß. Während die KBV mit der Politik sprechen werde, sollen die Praxen sich auf lokaler Ebene zu Maßnahmen zusammenfinden. Er rechne damit, dass am 2. Oktober viele Praxen geschlossen bleiben.
Dass die Kolleginnen und Kollegen mit dem Honorarergebnis nicht zufrieden seien, könne er nachvollziehen. „Dass wir seit Jahren eine Entwicklung haben, wo die realen Erträge der Praxen sinken, ist klar.“ Es zeige sich aber, dass die Mechanismen des Sozialgesetzbuchs (SGB V) dafür nicht ausreichend seien: Im Grunde seien nur Parameter angelegt, die auf eine Senkung der Vergütung hinausliefen: Jegliche Optimierung führe automatisch dazu, dass man Geld weggenommen bekomme. „In einem solchen System kommen eben Pseudo-Verhandlungen zustande.“ Insofern sei der Vergleich mit einer Gewerkschaft absurd. Sein Vorwurf: „Wenn man als Minister nicht reagiert, dann sind einem die Praxen ganz offensichtlich egal.“
Niemand darf Ärzte weglächeln
Von Erpressung in den Verhandlungen wollte auch Vize Dr. Stephan Hofmeister nicht sprechen. Vielmehr seien die Rahmenbedingungen so gestrickt, dass man sich darin nicht frei bewegen könne. Er sagte, dass der Kampf auch nach dem Abschluss weiter gehe. Er sei jedenfalls nicht amtsmüde und auch nicht der Meinung, dass Andere es besser könnten. „Niemand kann so naiv sein zu glauben, dass die Politik acht bis zehn Milliarden Euro für uns locker macht.“ Wenn aber die Kolleginnen und Kollegen vor Ort jetzt wachgerüttelt worden seien und die Patientinnen und Patienten informiere, habe man etwas erreicht. „Wir dürfen nicht zulassen, dass ein Minister uns weglächelt und sagt, er könne sich nicht an unsere Anliegen erinnern.“
Er bemängelte, dass das BMG nicht an den Eckpunkten des von der Bundesregierung in Meseberg beschlossenen Bürokratieentlastungsgesetzes mitgewirkt habe. „Das BMG wiederum will bis zum 30. September eigene Empfehlungen zum Bürokratieabbau vorlegen“, so der KBV-Vize. „Wenn das Versprechen der Bundesregierung und die Ankündigungen des Gesundheitsministers in Sachen Bürokratieentlastung Substanz beweisen würden, dann wäre das ein echter Beitrag gegen den ,Praxenkollaps’!“
Auch KBV-Vorstandsmitglied Dr. Sibylle Steiner übte erneut scharfe Kritik am BMG: „Das Vertrauen der Vertragsärzte und -psychotherapeuten in die aktuelle Gesundheitspolitik geht gegen Null.“ Laufende Gesetzesvorhaben gingen an die Substanz der Freiberuflichkeit und Selbstverwaltung. Insbesondere die junge Generation sei nicht länger bereit, sich „verscheißern“ zu lassen.