Interview Apotheker Dr. Franz Stadler

Verfallene Wirkstoffe für AOK-Patienten

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Berlin -

Nach dem „Retax-Freibrief“ des Bundessozialgerichts (BSG) starten die Krankenkassen in der Fläche ihre Ausschreibungen zu Sterilrezepturen. Die AOK schreibt in fünf Bundesländern aus, DAK und GWQ gar bundesweit. Apotheker Dr. Franz Stadler kämpft seit Jahren gegen den Sparwahn der Kassen in der patientenindividuellen Versorgung. Gegenüber APOTHEKE ADHOC erklärt er, dass die Kassen Apotheker in die Illegalität zwingen und die Politik nun endlich eingreifen soll.

ADHOC: Aus Ihrer Sicht sollten sich Apotheker an Zyto-Ausschreibungen gar nicht erst beteiligen. Warum?
STADLER: Weil die Apotheken sich damit de facto verpflichten, nicht verkehrsfähige Ware an ihre Patienten abzugeben. Denn die Haltbarkeit der Inhaltsstoffe wird zwangsläufig überschritten. Apotheker müssen vor jeder Rezeptur deren Plausibilität prüfen und dokumentieren. So fordert auch die AOK in Anlage 8 von den bietenden Apotheken eine entsprechende Eigenerklärung mit detaillierten Angaben über Art und Umfang der durchzuführenden Prüfungen. Leider wurde versäumt, ähnliche Plausibilitätsprüfungen für die Vergabe der Lose durch die Krankenkassen vorzusehen. So wurden sowohl bei der Erstellung als auch bei der Kontrolle der AOK-eigenen Vergabekriterien Fehler gemacht und gültige, arzneimittelrechtliche Rahmenbedingungen missachtet.

ADHOC: Haben Sie dafür ein konkretes Beispiel?
STADLER: Die Lose 65 (Fulda) und 66 (Schlüchtern/Geinhausen/Büdungen/Gedern) in Hessen fielen an die Alte Apotheke in Schüchtern. Deren Besitzer, Dr. Peter Homann, ist laut Ihrem Bericht ein „Neuling“ unter den Zyto-Apothekern und verfügt über kein eigenes Sterillabor. Er muss nach AOK-Angaben aus dem Stand 5386 Zubereitungen bedienen, die immerhin knapp 17 Prozent Wirkstoffe enthalten, die laut Hilfstaxe länger als 24 Stunden haltbar sind. Allerdings bedeutet dies auch, dass fast 84 Prozent der Zubereitungen nur 24 Stunden oder weniger haltbar sind. Darunter befinden sich Zubereitungen mit Bortezomib (78 Zubereitungen, 8 Stunden haltbar), Cabazitaxel (24 Zubereitungen, 1 Stunde haltbar), Decitabin (47 Zubereitungen, 1 Stunde haltbar) oder nab-Paclitaxel (108 Zubereitungen, 8 Stunden haltbar).

ADHOC: Aber was hat das mit der Ausschreibung zu tun?
STADLER: Für die Herstellung der Zubereitungen hat der Apotheker in diesem Fall als Lohnhersteller die Firma Rhein Main Compounding beauftragt, deren Firmensitz in Aschaffenburg ist. Die einfache Entfernung von Tür zu Tür beträgt rund 75 km, das entspricht ohne Verkehr einer Fahrtzeit von 48 Minuten über A45 und A66. Selbst wenn wir in diesem Beispiel die Fahrtzeit von der Alten Apotheke zu den einzelnen Praxen vernachlässigen würden, eine freie und unbehinderte Autobahnfahrt unterstellen und für den Bestellvorgang, dessen Weiterleitung und die eigentliche Herstellung der Zubereitung nur 15 Minuten ansetzen würden, ist offensichtlich, dass dieser Losgewinner niemals die in den Ausschreibungsunterlagen der AOKen vorgegebenen „in der Regel“ 45 Minuten für Adhoc-Zubereitungen einhalten kann. Das Gleiche würde übrigens auch für die noch laufende DAK-Ausschreibung gelten, die dafür 60 Minuten zulassen würde. Diese simple Überprüfung ihrer eigenen Vergabekriterien wurde also bei der Zuschlagserteilung unterlassen.

ADHOC: Was bedeutet das für die Versorgung?
STADLER: Von der Alten Apotheke in Schüchtern wird unter anderem das MVZ Osthessen in Fulda versorgt. Die einfache Fahrtstrecke beträgt 29,6 km für die – wiederum ohne Verkehr – 21 Minuten benötigt werden. In der Apotheke muss nach der Anlieferung durch den Lohnhersteller besagte Plausibilitätsprüfung durchgeführt und dokumentiert werden, also mindestens ausgepackt und wieder eingepackt werden. Aus Sicht der Krankenkassen positiv gedacht sind so für einen Adhoc-Bestellvorgang bei schnellstmöglicher, störungsfreier Ausführung etwa zwei Stunden Lieferzeit zu veranschlagen, in aller Regel wird es aber deutlich länger dauern.

ADHOC: Die Kassen argumentieren mit der Wirtschaftlichkeit der Versorgung.
STADLER: Natürlich kann man argumentieren, dass die Wartezeit gerechtfertigt ist und der Patient in kritischen Phasen eben etwas mehr Zeit mitbringen muss. Ohne auf den physischen und psychischen Zustand der schwerkranken Patienten eingehen zu wollen und ohne das in den onkologischen Praxen ausgelöste organisatorische Durcheinander beschreiben zu wollen, verbleibt das Thema der arzneimittelrechtlich vorgegebenen Haltbarkeiten. In dieser Liefersituation ist eine Belieferung mit Wirkstoffen, die nur eine Stunde haltbar sind, etwa Cabazitaxel oder Decitabin, lege artis nicht möglich. Der Patient muss also mindestens in diesen Fällen arzneimittelrechtlich verfallene Ware bekommen. Auch deshalb dürften die Vorgaben der ausschreibenden Krankenkassen 60 Minuten Lieferzeit nicht überschreiten, sie müssten eigentlich deutlich niedriger sein. Aber auch bei der Festlegung dieser Zeiten wird auf eine einfache Plausibilitätsprüfung verzichtet.

ADHOC: Warum verschließen die Kassen die Augen vor diesem Problem?
STADLER: Liegt es vielleicht daran, dass man selbst sehr gut weiß, dass diese Art von Ausschreibungen eigentlich ein Aufruf zum Rechtsbruch ist? Vielleicht fürchten die Kassen die erboste Reaktion der Patienten, sollte denen der Umstand bekannt werden, dass sie mit verfallenen Wirkstoffen behandelt werden.

ADHOC: Bislang haben sich noch immer Apotheken an den Ausschreibungen beteiligt. Gibt es eine Alternative zum Boykott?
STADLER: Mein Appell an die Politik: Es wird Zeit, dieses Treiben zu unterbinden. Einsparungen können auch auf andere Weise erzielt werden, aber Ausschreibungen sind in diesem Fall patientenindividueller Versorgung zu verbieten. Sie zerstören organisch gewachsene Versorgungsstrukturen und gefährden möglicherweise die Gesundheit der Patienten.

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