Pharmakovigilanz ist keine Chefsache Patrick Hollstein, 01.04.2016 09:22 Uhr
Pharmahersteller brauchen einen Stufenplanbeauftragten, so sieht es das Arzneimittelgesetz (AMG) vor. Aber darf der Chef die Arzneimittelsicherheit gleich selbst verantworten? Nein, entschied jetzt das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen (OVG). Da der Geschäftsführer eines Unternehmens vor allem den kommerziellen Erfolg im Auge haben muss, darf er aus Sicht der Richter nicht gleichzeitig für mögliche Rückrufe verantwortlich sein.
Laut AMG müssen Hersteller „eine in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union ansässige qualifizierte Person mit der erforderlichen Sachkenntnis und der zur Ausübung ihrer Tätigkeit erforderlichen Zuverlässigkeit“ zum Stufenplanbeauftragten ernennen. Diese haben die Verantwortung für das Pharmakovigilanzsystem; sie müssen bekannt gewordene Meldungen über Arzneimittelrisiken sammeln, bewerten und die notwendigen Maßnahmen koordinieren. Dazu gehört insbesondere die Kommunikation mit den Überwachungsbehörden. Die Details regelt die Arzneimittel- und Wirkstoffherstellungsverordnung (AMWHV).
Im konkreten Fall hatte der Geschäftsführer eines Unternehmens sich selbst zum Stufenplanbeauftragten ernannt. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf (VG) hatte in der Vorinstanz schon die erforderliche Sachkenntnis infrage gestellt, doch damit wollte sich das OVG im Berufungsverfahren gar nicht mehr beschäftigen.
Denn aus Sicht der Richter darf der Geschäftsführer per se nicht für die Arzneimittelsicherheit verantwortlich sein. Laut AMWHV soll der Stufenplanbeauftragte „von den Verkaufs- oder Vertriebseinheiten unabhängig sein“ – und dazu zählt das OVG den pharmazeutischen Einzelunternehmer genauso wie den alleinigen Geschäftsführer einer Kapitalgesellschaft. „Beide sind als Träger der den Verkauf beziehungsweise den Vertrieb betreffenden Entscheidungen gerade die Führungsspitze auch der Verkaufs- und Vertriebseinheiten des Unternehmens“, heißt es im Urteil.
Dass der entsprechende Paragraf der AMWHV als Soll-Vorschrift ausgestaltet ist, ist laut OVG irrelevant. Nur wenn ein wichtiger Grund vorliegt, darf ausnahmsweise von der Vorgabe abgewichen werden. „Liegt kein atypischer Fall vor, bedeutet das 'Soll' demzufolge ein 'Muss'.“
Schon dass im AMG von einer Beauftragung des Stufenplanbeauftragten die Rede ist, setzt laut Gericht grundsätzlich voraus, dass Unternehmer und Stufenplanbeauftragter unterschiedliche Personen sind. Auch bei den Vorgaben zur Ausgestaltung des Pharmakovigilanzsystems fehle ein organisatorischer Anknüpfungspunkt beim pharmazeutischen Unternehmer. Vielmehr handele der Beauftragte in eigener persönlicher Verantwortung.
„Daraus folgt, dass es vom Gesetzgeber nicht als ausreichend erachtet wurde, dem Unternehmer selbst diese Verpflichtungen aufzuerlegen. Es sollte vielmehr eine vom Unternehmer unabhängige Person mit persönlicher Verantwortung tätig sein, die neben einer Verantwortung des pharmazeutischen Unternehmers besteht“, heißt es im Urteil.
Dasselbe lasse sich aus der EU-Richtlinie zur Guten Herstellungspraxis (GMP) ableiten. Dort heißt es, dass „Personal, welches verantwortlich ist für die Durchführung von Untersuchungen über Beanstandungen und Qualitätsmängel und für die Entscheidung über Maßnahmen, um davon ausgehende Risiken zu bewältigen, einschließlich Rückrufe, unabhängig von Vertriebs- und Marketingorganisationen sein sollte, soweit nicht anders gerechtfertigt“.
Dabei gehe es nicht um die Unabhängigkeit der Qualitätssicherung von der Produktion, sondern vom Vertrieb und vom Marketing, also von der Vermarktung der Produkte. „Gerade hier gibt es offensichtlich Interessenkonflikte, weil Maßnahmen im Bereich der Qualitätssicherung, insbesondere solche, die der Arzneimittelsicherheit dienen (z. B. Rückrufe), Auswirkungen haben auf die Vermarktung der Arzneimittel, insbesondere auf den durch den Verkauf zu erzielenden Umsatz.“ Dieser Interessenkonflikt bestehe auch, wenn der Geschäftsführer gleichzeitig Stufenplanbeauftragter sei. „Er ist gerade nicht unabhängig vom Vertrieb und vom Marketing.“
Nicht beantworten wollten die Richter die Frage, ob bei kleinen pharmazeutischen Unternehmen mit einem für die Trennung der Aufgaben nicht ausreichenden Personal von einem Ausnahmefall auszugehen ist. Im konkreten Fall gebe es nämlich noch zwei weitere Stufenplanbeauftragte, die die Aufgaben des Geschäftsführers in diesem Bereich übernehmen könnten.
Nicht entscheidungserheblich und nicht von grundsätzlicher Bedeutung war auch die Frage, ob die laut AMG geforderte Sachkenntnis einen qualifizierenden naturwissenschaftlichen Hochschulabschluss fordert oder kumulativ durch eine theoretische beziehungsweise berufliche Ausbildung und eine praktische Erfahrung erworben werden kann. Das Urteil ist rechtskräftig.