Iges-Gutachten (2006): Zuckerbrot und Peitsche für Apotheken Lothar Klein, 26.02.2020 09:25 Uhr
Im Auftrag von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sollen das Iges-Institut und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung ein Gutachten zur teilweisen oder vollständigen Aufgabe der Preisbindung und der Gewährung von Rx-Boni erstellen. Das könnte maßgeblichen Einfluss auf die weitere Beratung des Apothekenstärkungsgesetzes (VOASG) haben. Es ist nicht das erste Mal, dass sich das Iges-Institut mit den Arzneimittelpreisen befasst. 2007 schlugen Professor Dr. Eberhard Wille und Professor Dr. Dieter Cassel als Reaktion auf die Einführung der Rabattverträge ein völlig neues Modell für das Apothekenhonorar vor. Ein Preiskampf um die Patienten sollte „Zuckerbrot und Peitsche“ für Apotheken bringen und Kassen sowie Versicherten nutzen.
Kern des Anfang 2007 veröffentlichen Gutachtens waren die Folgen der Einführung von Rabattverträgen für die Arzneimittelhersteller. So drehte sich auch viel um die Pharmaindustrie, bevor die Experten auf die Apotheken zu sprechen kamen. „Deutschland hat in den vergangenen Jahrzehnten einen deutlichen Niedergang seiner forschenden Pharmaindustrie erlebt und seine führende internationale Stellung als ‚Apotheke der Welt‘ verloren“, hieß es. Dazu hätten sicherlich auch die zur Steuerung der Arzneimittelausgaben verstärkt eingesetzten Regulierungen auf der Hersteller-, Apotheken- und Ärzteebene beigetragen, so Wille und Cassel. An verschiedenen industrieökonomisch relevanten Indikatoren gemessen, sei die internationale Bedeutung des Pharmastandorts Deutschland merklich zurückgegangen.
Ein Grund dafür sei die Überregulierung des Arzneimittelmarktes. „Von der Vielzahl der Instrumente dienen allein 16 ausschließlich oder überwiegend der Ausgabendämpfung im GKV-Arzneimittelmarkt. Das umfangreiche und ständig erweiterte Regulierungsspektrum gerät offenkundig mit der industriepolitischen Forderung nach Transparenz, Konsistenz, Planbarkeit und Fairness des Regulierungssystems in Konflikt“, analysierten die Iges-Experten. Die mangelnde Verlässlichkeit der Rahmenordnung tangiere insbesondere die forschenden Hersteller, die bei ihren aufwendigen Innovationsvorhaben in langen Zeiträumen kalkulieren müssten. Komplexe und intransparente Regulierungssysteme liefen Gefahr, dass die Betroffenen sie als willkürlich empfänden und ihre Konsistenz und Fairness in Frage stellten: „Angesichts derartiger Inkonsistenzen im deutschen Regulierungssystem und einer unverkennbaren Tendenz zur ausgabenorientierten Überregulierung liegt der Schluss nahe, den internationalen Bedeutungsverlust der forschenden Pharmaindustrie in Deutschland auf gesundheits- und industriepolitisches Politikversagen bei der Steuerung der Arzneimittelversorgung zurückzuführen.“
Als Alternative forderten die Gutachter „kassenspezifische Arzneimittel-Positivlisten“. Zur Gestaltung dieser Listen sollte der Gesetzgeber Arzneimittelvergleichsgruppen (AVG) mit jeweils vier bis fünf oder mehr Wirkstoffen vorgeben. „Die Hersteller sind ungeachtet der AVG-Zuordnung ihrer Produkte völlig frei in der Festsetzung ihrer Herstellerabgabepreise, aber zur Bestimmung eines GKV-einheitlichen Herstellerabgabepreises verpflichtet. Die treibende Kraft des Innovations- und Preiswettbewerbs bildet in diesem Konzept das Bemühen der Hersteller um die Aufnahme in die Positivliste möglichst vieler Krankenkassen“, so die Gutachter.
Dann befassten sich die beiden Wissenschaftler mit den Apotheken: „Auf der Vertriebsebene (Arzneimittelgroßhandel und Apotheken) erfolgt eine Stärkung des Preiswettbewerbs durch eine neue Kalkulations-, Erstattungs- und Zuzahlungsregelung bei der Abgabe erstattungsfähiger Fertigarzneimittel“, heißt es in dem Gutachten. Dabei werde den Apotheken wie bisher eine GKV-einheitliche Apothekenfestspanne gewährt und abzüglich einer GKV-einheitlichen Regelzuzahlung der Patienten von den Kassen unter Wahrung des Sachleistungsprinzips erstattet. „Die Apotheken wiederum kalkulieren für ihre Dienstleistungen eine apothekenindividuelle Handelsspanne, die höher, gleich hoch oder geringer als die Apothekenfestspanne sein kann“, so Wille und Cassel. Der Patient erhalte die Möglichkeit, durch die Wahl einer spannengünstigen Apotheke seine tatsächliche Zuzahlung zu reduzieren.
An einem Beispiel verdeutlichten die Autoren ihr Apothekenhonorarmodell: Bei einem Arzneimittel zum Herstellerabgabepreis von 100 Euro beträgt die Apothekenfestspanne (AFS) 40 Prozent. Darauf muss der Patient 10 Prozent Zuzahlung leisten – 14 Euro. Der Apotheker könnte aber seine Apothekenindividuelle Handelsspanne (AIH) auch anpassen – diese absolute Differenz würde dann beim Patienten laden: Begnügt sich der Apotheker mit 30 Prozent, würde seine Spanne also auf 30 Euro sinken. Der Vorteil würde komplett beim Patienten landen und dessen Zuzahlung auf 4 Euro sinken. Der Apotheker könnte aber auch seine AIH auf 50 Prozent anheben mit der Folge, dass die Zuzahlung auf 24 Euro steigen würde.
Die beiden Wissenschaftler sahen in ihrem Vorschlag „Zuckerbrot und Peitsche für alle Marktakteure“. Das Reformkonzept bestehe im Kern aus der kassenspezifischen Positivliste einerseits und der Apothekenfestspanne andererseits. Beide Instrumente dienten ausschließlich der Erstattungsregulierung und griffen nicht direkt in die individuelle Preissetzung von Herstellern und Distributeuren ein. Sie bildeten vielmehr die notwendige Voraussetzung, um einen „unverzerrten Preiswettbewerb auf der Hersteller- und Vertriebsebene anzustoßen“.
So zwinge die Möglichkeit der Kassen, Medikamente aus den AVG für ihre kassenspezifische Positivliste auszuwählen, die Hersteller dazu, konkurrenzfähige Preise für ihre Präparate festzulegen oder kassenindividuelle Rabatte zu gewähren, um ihre Chance auf Erstattung durch Aufnahme in die kassenspezifische Positivliste zu wahren. Und die den Patienten eingeräumte Möglichkeit, durch Kauf ihrer Medikamente in einer spannengünstigen Apotheke ihre Zuzahlung zu verringern, werde die Apotheken dazu zwingen, sich um wettbewerbsfähige Preise für ihre Dienstleistungen zu bemühen.
Die Kombination von Apothekenfestspanne und Regelzuzahlung der Patienten ermögliche einen intensiven Preiswettbewerb auch auf der Vertriebsebene. Die Apothekenfestspanne schränke die betriebliche Kalkulation und Festsetzung von apothekenindividueller Handelsspanne keineswegs ein – im Gegenteil: Sie bestimme den GKV-Erstattungsumfang bei den Vertriebskosten und bilde damit einen Beurteilungsmaßstab der Preiswürdigkeit von Apothekendiensten. „Indem Patienten durch die Wahl einer Apotheke mit einer apothekenindividuellen Handelsspanne unterhalb der Apothekenfestspanne ihre tatsächliche Zuzahlung verringern können, erhalten sie den bisher fehlenden wirtschaftlichen Anreiz, ihre Arzneien bei einer vergleichsweise kosteneffizienten Apotheke zu erwerben. Dies zwingt Apotheken und Großhandel dazu, ihre Kostenstrukturen zu optimieren und die apothekenindividuelle Handelsspanne als Preis für ihre Dienstleistung konkurrenzfähig zu halten“, so die Wissenschaftler. Die damit einhergehende Ausschöpfung der Wirtschaftlichkeitsreserven komme letztlich den Kassen und Patienten zugute.
In diesem Vorschlag sahen Wille und Classen die „Quadratur des Kreises“. Der Konflikt zwischen gesundheitspolitisch gewünschter Ausgabendämpfung und industriepolitisch geforderter Standortsicherung lasse sich so durch wenige und zweckmäßigere Instrumente einerseits und mehr Vertragswettbewerb auf der Hersteller- und Apothekenebene andererseits lösen, zumindest aber wesentlich entschärfen. Es stehe außer Frage, dass ein solches, auf wenige zentrale Instrumente reduziertes, aufeinander abgestimmtes Regulierungssystem weit zielkonformer sei, als der „Reparaturbetrieb“, der über Jahre hinweg weder die gesundheitspolitische, noch die industriepolitische Zielsetzung zu realisieren vermochte.