Retaxationen sind für Apotheker seit Jahren ein großes Ärgernis. Jetzt nehmen die Krankenkassen offenbar auch verstärkt die Ärzte unter die Lupe. Dort heißt das Schreckgespenst für alle Mediziner Regress. Die Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Hessen meldet für das Jahr 2015 einen deutlichen Anstieg der Prüfanträge. Meist handelt es sich – wie bei den Apothekern – um verkraftbare Summen. Allerdings gibt es bei neuen Arzneimitteln ein ruinöses Risikopotenzial für die Praxen. 110.000 Euro verlangt eine Kassen von einem Arzt für Verordnungen über Sovaldi. Die frühe Nutzenbewertung ist die Ursache.
Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) hat mit dem GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG) die allen Ärzten Schrecken einjagende jährliche Richtgrößenprüfung abgeschafft und durch regionale Vereinbarungen zwischen Kassen und KVen ersetzt. Offenbar haben die Kassen deshalb eine neue Strategie entwickelt. Sie monieren jetzt Verstöße gegen die Arzneimittelrichtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) und schicken den Ärzten entsprechende Prüfaufträge in die Praxis.
Laut KV Hessen lag deren Zahl bis 2014 pro Quartal regelmäßig bei rund 200 Stück – kein Grund zur Besorgnis. Im zweiten Quartal 2015 explodierten die Prüfaufträge aber bereits auf 500, im dritten Quartal auf 1050. Viele dieser Fälle sind nach Einschätzung von Dr. Wolfgang Lang-Heinrich, Vorstandsberater der KV Hessen für Regressfragen, durchaus berechtigt: „Bei Regresssummen von meist weniger als 200 Euro und in seltenen Fällen mehr als 750 Euro ist das wirtschaftlich für die Praxen auch kein Problem.“
In jüngster Zeit habe sich eine Kasse, deren Namen er nicht nennen will, aber auf Regresse mit Bezug auf die frühe Nutzenbewertung spezialisiert. Die Kasse picke sich Fälle heraus, in denen die Nutzenbewertung für die Indikationsuntergruppe keinen Zusatznutzen ergab. Ob die Verweigerung des Zusatznutzens tatsächlich aus medizinischen oder aus formalen Gründen erfolgte, spiele dabei keine Rolle. Und das kann teuer werden.
In einem Fall will die Kasse sogar ihr Geld zurück, obwohl die Verordnung durch den Arzt erfolgte, bevor das Urteil über den Zusatznutzen gefällt war: Im konkreten Beispiel geht es um Dimethylfumarat (Tecfidera) zur Behandlung von Multipler Sklerose. Der G-BA hatte keinen Zusatznutzen zu Vergleichstherapien anerkannt. Der Arzt hatte Tecfidera aber unmittelbar nach Markteinführung verordnet, noch bevor über den Zusatznutzen entschieden war. Eigentlich müsse dafür der vom Unternehmen festgelegte Preis bezahlt werden, so Lang-Heinrich. Aber die Kasse forderte trotzdem eine fünfstellige Summe zurück. Die KV unterstützt den Widerspruch des Arztes. Das Verfahren läuft noch.
In anderen Fällen könnten die Regresse sogar ruinöse Folgen haben. Acht Sovaldi–Prüfaufträge wurden laut Lang-Heinrich allein im dritten Quartal 2015 gestellt. Die Regresssummen beliefen sich je Arzt auf bis zu 110.000 Euro. Die Kassen begründeten ihren Anspruch mit Verordnungen für Subgruppen, für die der G-BA keinen Zusatznutzen bescheinigt habe – wegen statistischer Signifikanz sei der Zusatznutzen in dieser gerade mit fünf Probanden besetzten Subpopuplation (Genotyp III) nicht anerkannt worden.
Lang-Heinrich befürchtet, dass die Kassen in Zukunft verstärkt solche Regresse in die Praxen schicken werden. Sein Verdacht gründet sich auf der kürzlich erhobenen Forderung des GKV-Spitzenverbandes an die Ärzte, bei solchen Verordnungen auch die Subgruppen auf dem Rezept zu kodifizieren – bislang ist nur die Angabe der Hauptindikation verbindlich. Damit könnten die Kassenprüfer dann ganz leicht prüfen, ob ein Regress möglich ist.
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