Podiumsdiskussion

Wer ist schuld am Apothekensterben?

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Berlin -

Sind Versandapotheken ein Fluch oder ein Segen für die Patienten und das medizinische System insgesamt? Dieser anhaltend kontroversen Frage ging der CDU-Bundestagsabgeordnete Fritz Güntzler in einer hochkarätig besetzten Podiumsdiskussion mit Vertretern beider Lager nach.

Güntzlers Spezialitäten sind eigentlich Sport und Finanzen. Doch nach dem EuGH-Urteil habe eine Postkartenaktion von DocMorris ihn dazu bewogen, das emotionale Thema Versandapotheken auf die Tagesordnung seiner Veranstaltungsreihe „Fritz im Dialog“ in Göttingen zu setzen.

Als Vertreter der Apotheker hielt Berend Groeneveld das Eingangsstatement. Der Besitzer der Rats-Apotheke im ostfriesischen Norden ist zugleich Vorsitzender des Landesapothekerverbands Niedersachsen und Mitglied im geschäftsführenden Vorstand des Deutschen Apothekerverbands (DAV). „Der EuGH hat mit seinem Urteil vom 19. Oktober erstmals im Gesundheitswesen nach Wettbewerbskriterien entschieden“, so Groeneveld. „Für viele kam das sehr überraschend. Damit haben wir in Fachkreisen nicht gerechnet.“

Zuvor habe gegolten, dass das ein nationales Gesundheitssystem eine nationale Aufgabe sei und vom Staat organisiert werde. „Jetzt galt die deutsche Arzneimittelpreisverordnung als Wettbewerbsbeschränkung, die den freien Warenverkehr in Europa verhindert.“ Dabei habe sie sichergestellt, dass alle Bürger, egal ob in der Stadt oder auf dem Land den gleichen Zugang zu Medikamenten haben und zwar zum gleichen Preis.

Das EuGH-Urteil sei eine Backpfeife für die deutsche Politik wie für die deutsche Gerichtsbarkeit gleichermaßen. „Das EuGH hat festgestellt, dass ein deutsches Gesetz nicht EU-Recht entspricht.“ Die höchsten Bundesgerichte mit ihrem gemeinsamen Senat hätten festgestellt, dass die deutsche Arzneimittelpreisverordnung bindend sei für ausländische Apotheken, die in Deutschland beliefern. Auch das sei vom EuGH ausgehebelt worden. „Das ist in etwa so, als wenn sich andere EU-Bürger auf den deutschen Autobahnen nicht mehr nach der Straßenverkehrsordnung richten müssten.“

Seit Zulassung der Versandapotheken 2004 stellten sich die Vor-Ort-Apotheken dem Wettbewerb. „Aber wir haben keine gleich langen Spieße mehr. Wenn das Gesundheitssystem zu wettbewerbsorientiert ausgerichtet wird, leidet am Ende das schwächste Glied der Kette. Das ist der Patient.“ Nach dem EuGH-Urteil habe sich das deutsche Recht nicht geändert. „Apotheker ist ein Heilberuf, er hat vom Staat die Hoheitsauftrag der Versorgung mit Medikamenten erhalten. Die kann er nur erfüllen, wenn die Rahmenbedingungen geschaffen werden, die wirtschaftliche Basis der Apotheke zu sichern.“

„Das Thema Versandapotheken und EuGH-Urteil führt bei bestimmten Berufsgruppen verständlicherweise zu hohen Emotionen“, entgegnete der gebürtige Hannoveraner Max Müller aus dem Vorstand von DocMorris. In der Auseinandersetzung werde häufig mit zweierlei Maß gemessen. „Es ist kein Problem, wenn sich deutsche Krankenhauskonzerne in Spanien engagieren oder zwei Pharmagroßhändler den Markt in vielen europäischen Staaten dominieren. Soll Deutschland jetzt überall aus den EU-Ländern geschmissen werden?“

Der jüngste Prozess vor dem EuGH sei von bayerischen Apotheken angestrengt worden, nicht von DocMorris, so Müller. Der deutsche Gesetzgeber habe erst den Weg für das Urteil geebnet. „Wenn es das entsprechende Gesetz nicht gegeben hätte, dann hätte sich der EuGH für nicht zuständig erklärt. Aber wenn ihr den Versandhandel öffnet, dann gelten die entsprechenden Regeln.“

Nicht der Versandhandel mit seinen Rezeptboni sei Schuld am Apothekenschwund, so Müller. „Zwischen 2012 und 2016 gab es keine Veränderungen in der Arzneimittelpreisverordnung, doch gerade in dieser Phase schmolz die Zahl der Apotheken.“ Seit 20 Jahren sei bekannt, dass der demografische Faktor auch nicht vor Heilberufen Halt mache. „Die Babyboomer gehen langsam in Rente. Wir haben die Berichte in der Lokalpresse ausgewertet. Über 90 Prozent der Apotheker, die aufgeben mussten, hatten keinen Nachfolger gefunden.“

Das Problem lasse sich nicht über Nacht lösen. „Wenn man nur an einer Universität in Niedersachsen Pharmazie studieren kann, dann haben wir es nicht geschafft, den Beruf attraktiv zu machen“, so Müller. Um den Nachwuchsmangel gerade im ländlichen Raum zu bekämpfen, müsse man Anreize schaffen. „Man kann sagen, du bekommst leichter eine Zulassung, wenn du doch verpflichtest, für eine Weile in den ländlichen Raum zu gehen.“

Einer intensiven Diskussion, die Wettbewerbsbedingungen zu harmonisieren, versperre sich DocMorris nicht. „Es gibt keinen fairen Wettbewerb, das stimmt. Wir müssen eine Lösung finden. Aber das kann kein Verbot sein, das wäre verfassungswidrig und auch EU-widrig.“ Stattdessen müsse man sich fragen, wie man die Attraktivität von Vor-Ort-Apotheken erhöhen könne. „Nach dem heutigen System gilt: Je mehr Rezepte eine Apotheke bekommt, umso größer ist die Marge, das gibt es in der Regel nicht auf dem Land. Der Arzt entscheidet noch immer über die Verordnung, dem Patienten ist es freigestellt, wohin er mit seinem Rezept geht.“

Heinrich Meyer durfte in der anschließenden Diskussionsrunde die Rolle des „guten Versandapothekers“ übernehmen. Der Vorstand des Bundesverbands Deutscher Versandapotheker (BVDVA) arbeitet als Chefapotheker von Sanicare. „Wir sind sehr unglücklich mit der Situation. Wie jede deutsche Apotheke müssen wir uns an die Arzneimittelpreisverordnung halten und haben dadurch einen klaren Wettbewerbsnachteil gegenüber Versandapotheken wie DocMorris.“ Einem Verbot des Rx-Versands erteilte auch Meyer eine klare Absage. „Mittlerweile werden viele spezielle Rezepturen im Versandhandel hergestellt. Ein Rx-Verbot würde die etablierten Strukturen zerstören.“

Der BVDVA befürworte die Reformierung der Apothekenpreisverordnung hin zu einer Höchstpreisverordnung „mit einem festen Höchstpreis, Abweichungen nach unten sind erlaubt“. Einen Wettbewerb solle es ebenso nur in einem ganz begrenzten Maße geben wie die Möglichkeit zur Gewährung von Boni. Sein Unternehmen unterstütze den Vorschlag des Verbands, betonte DocMorris-Vorstand Müller. „Wir haben dem Bundesgesundheitsministerium signalisiert, dass man über eine Bonusdeckelung von zum Beispiel einem Maximalbetrag von 5 Euro nachdenken und europaweit gestalten kann.“

Wie Kollege Müller betonte auch Meyer, dass nicht der Versand, sondern der Nachwuchsmangel in den Heilberufen verantwortlich sei für das Apothekensterben. „Die Verordner gehen uns in der Fläche verloren. Durch den Schwund der Hausarztpraxen schwindet auch die wirtschaftliche Basis für die Vor-Ort-Apotheken.“ Das bestehende System sterbe aus, meinte auch Groeneveld. „Die Babyboomer werden in den nächsten zehn bis 15 Jahren von Leistungsgebern zu Leistungsempfängern. Dann werden die alten Versorgungsstrukturen nicht mehr da sein. Die Betreuung durch das pharmazeutische Fachpersonal wird das erste sein, das geht. Der Apotheker allein wird sich schon irgendwie sein Überleben sichern.“

Ganz so einfach sei das nicht, betonte Frank Germeshausen, Inhaber der Schwan-Apotheke Duderstadt und Mitglied im Vorstand des Landesapothekervereins Niedersachsen. „Die Versandapotheken sorgen dann für ein Problem, wenn sie sich nicht an das deutsche Recht halten müssen.“ Dagegen hätten die Vor-Ort-Apotheken die Pflicht zu Notdienst und Rezeptur. „Für den Notdienst werden 17 Euro pro Stunde erstattet, das ist für einen Akademiker nicht angemessen. In der Rezeptur wurden die Erstattungen etwas angepasst, aber das ist noch lange nicht kostendeckend. So entstehen Kosten, die sich nicht querfinanzieren lassen.“

Alle Beteiligten müssten die gleichen Voraussetzungen haben, sagte Germeshausen. „Es ist ein Problem, wenn den Patienten durch Rezeptboni der Anreiz eröffnet wird, Geld aus dem Gesundheitssystem zu holen, dass ihnen nach deutschem Recht eigentlich nicht zusteht.“

Müller betonte, DocMorris leiste zu 100 Prozent seinen Beitrag zum deutschen Gesundheitssystem. „Wir reduzieren unseren Anteil und geben einen Teil an den Patienten zurück.“ Es gäbe immer die Möglichkeit, einen Kompromiss zu finden. „Wir haben ein Ergebnisproblem bei den Apotheken vor Ort. Wenn wir selbst Apotheken betreiben dürften, würden wir uns gerne am Notdienst beteiligen. Hier sagt der EuGH aber, es sei allein Sache des deutschen Gesetzgebers, Apothekenketten zuzulassen.“ Versandhändler Meyer sagte, sein Versand befürworte einen Sicherstellungszuschlag. „Gemeinschaftsverpflichtungen wie Notdienst oder Rezeptur müssen besser vergütet werden. Wir schlagen eine Umverteilung vor: Wer besonders viele Rezepte einlöst, soll einen Solidarbeitrag an die Apotheken in der Fläche leisten, die besonders viele Notdienste abdecken müssen.“

In den letzten drei Jahren seien schon mehr Vergütungen an die Apotheken vor Ort und auch an die deutschen Versandapotheken ausgeschüttet worden, so DocMorris-Vertreter Müller. „Ist das genug? Ich glaube nein. Es hätte schon in dieser Legislaturperiode mehr Möglichkeiten gegeben, die Beratungs- und Betreuungsleistungen zukunftsweisend abzusichern. Durch das Preissystem müssen wir zwangsläufig Entscheidungen treffen, um wirtschaftlich arbeiten zu können.“

Apothekervertreter Groeneveld brachte noch einen neuen Aspekt in die Diskussion ein, den bundeseinheitlichen Medikationsplan. „Die gebotene pharmazeutische Qualität kann eine Apotheke nur leisten, wenn sie die gesamte Medikation eines Patienten kennt. Im Idealfall sollte sich ein Patient eine Stammapotheke suchen, die seinen Medikationsplan führt.“ Wenn der Vor-Ort-Apotheke wegen der Rx-Boni die Belieferung der Dauermedikation entzogen werde, könne sie nicht mehr mögliche Wechselwirkungen beurteilen, sollte der Patient wieder bei ihm vorstellig werden.

Sanicare-Versandapotheker Meyer pflichtete ihm bei. „Wir können die beste Beratung nur anbieten, wenn wir die gesamte Medikation kennen. Wir versuchen unsere Kunden dazu zu motivieren, uns alle Medikamente mitzuteilen. Doch diesen Idealfall gibt es nur in ganz seltenen Ausnahmefällen.“ Auch DocMorris tue alles im Rahmen seiner Möglichkeit, um die Arzneimittelsicherheit zu bewahren, betonte Müller. „Jedes eingereichte Rezept wird entsprechend geprüft bis mindestens 90 Tage in die Bestellhistorie des Patienten zurück. Das ist eine Leistung, die in anderen Ländern entsprechend vergütet wird.“ In Deutschland dürfen die Apotheken den Plan bislang nur ergänzen und werden dafür nicht bezahlt.

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