Hamburg

Gesundheitskiosk: Über 1000 Patienten in sechs Monaten

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Berlin -

Seit knapp einem halben Jahr bietet Deutschlands erster „Gesundheitskiosk“ eine Alternative für die medizinische Versorgung. Das Modellprojekt will benachteiligten Menschen in Hamburgs Problembezirken Billstedt und Horn einen niedrigschwelligen Einstieg zu Gesundheitsförderung und Prävention ermöglichen. 70 bis 80 Patienten kommen inzwischen wöchentlich.

„Das liegt deutlich über unseren Erwartungen“, sagt Projektleiter Alexander Fischer. Das Angebot müsse sich ja auch erst herumsprechen. Patienten werden im Gesundheitskiosk vor oder nach dem Arzttermin niedrigschwellig beraten; sie lernen, ihre Krankheiten und Therapieanweisungen zu verstehen, Arztberichte werden erläutert, Fragen zum Abnehmen, zur Rauchentwöhnung, zur Pflege und anderen Themen beantwortet. Rund 1000 Beratungsgespräche in acht Sprachen wurden seit dem Start im Oktober geführt. Das Erstgespräch dauert rund 45 bis 60 Minuten, die Folgegespräche eine halbe Stunde.

Dr. Dirk Heinrich, Vorsitzender der Landesgruppe Hamburg beim Verband der niedergelassenen Ärzte Deutschlands (NAV-Virchow-Bund), wünscht sich, dass dieses Modellprojekt so erfolgreich ist, dass es auch auf andere Städte ausgedehnt wird. „Bislang sind wir die ersten in Deutschland mit so einer Idee. Wir haben Versorgungsprogramme zu Diabetes, Rücken, Herz und Pflege aufgelegt und eine Informationskampagne gestartet.“

Der Gesundheitskiosk ist nur eine Maßnahme: Die Gesundheitsversorgung in Billstedt und Horn soll neu organisiert, der medizinische und soziale Sektor vernetzt werden. „Gesundheit für Billstedt/Horn“ wird mit 6,3 Millionen Euro vom Innovationsfonds gefördert. Das Projekt wurde 2016 vom NAV-Virchow-Bund gemeinsam mit OptiMedis, dem Ärztenetz Billstedt-Horn und der SKH Stadtteilklinik Hamburg ins Leben gerufen. Mittlerweile arbeiten bereits 18 Praxen, 42 Ärzte, acht Pflegeanbieter sowie drei Krankenkassen mit dem Kiosk zusammen; über 100 Gesundheitsangebote sind verfügbar. 15 Veranstaltungen zur Ärztefortbildung wurden abgehalten, drei Gesundheitsprogramme für Risikopatienten entwickelt.

Apotheker sind beim Gesundheitskiosk immer noch nicht im Boot. Dr. Jochen Walter von der benachbarten Markt-Apotheke vermietet zwar die Räume. Beim Medikationsmanagement mitmachen darf er aber nicht. Gesucht wurde nur ein Apotheker, der das Personal für einen Medikationscheck im Gesundheitskiosk in Eigenregie ausbilden kann.

Das lehnte Walter ab: „In meiner Apotheke bieten wir selbst auf Anfrage ein umfassendes Medikationsmanagment an. Dies würde ich auch Patienten des Gesundheitskiosks anbieten.“ Das Personal ausbilden, damit dieses die Arbeit für die dem Gesundheitskiosk angeschlossenen Ärzte erledigen könnten, das wollte Walter nicht – auch aus pharmazeutischen Gründen: „Nach und auch während der Dokumentation der vom Patienten eingenommen Arzneimittel gibt es doch viele Fragen zu besprechen und gegebenenfalls Fehler zu entdecken, die nur mit ausgeprägtem pharmazeutischen Know-how ersichtlich sind. Dies ist durch eine kurze Ausbildung von nicht pharmazeutisch ausgebildeten Mitarbeitern nicht zu leisten und ist deshalb der falsche Ansatz für eine Kooperation“, fand Walter. Man sei immer noch im Gespräch, sagt Fischer. Eine Lösung gibt es dem Kiosk-Chef zufolge aber noch nicht.

In Billstedt und Horn wohnen überdurchschnittlich viele Sozialhilfeempfänger, Menschen mit niedrigen Schulabschlüssen, Migranten und Alleinerziehende. Menschen aus diesen Bevölkerungsgruppen erkranken Studien zufolge rund zehn Jahre früher an Diabetes, Asthma, Herz- oder Lungenleiden. Die Arztpraxen können den erhöhten Behandlungsbedarf der Patienten kaum decken, es gibt zu wenig Ärzte.

Heinrich praktiziert seit 1996 als HNO-Arzt in Hamburg-Horn und erklärt: „Praxen an solchen Standorten, die ganz ohne Privatpatienten auskommen müssen, rechnen sich betriebswirtschaftlich häufig nicht. Zum Quartalsende ist das Budget der Kassen aufgebraucht und ich behandle meine Patienten, ohne dass ich von der Kasse dafür noch ein entsprechendes Honorar bekomme. Die Kosten für Mitarbeiter, Miete und Energie laufen aber weiter. Im schlimmsten Fall drohen mir sogar Honorarkürzungen und Regresse, wenn ich zu viel verschreibe.“

Ihn ärgert, dass die Sparmaßnahmen der Politik die Situation gerade in Problembezirken verschärft haben: „Die Budgetierung im Gesundheitswesen ist der Hauptgrund, warum die Menschen das Gefühl haben, es gäbe eine Zwei-Klassen-Medizin. Unsinnige Forderungen wie zwangsweise noch mehr Sprechstunden ändern nichts daran, dass wir zu wenig Ärzte und zu wenig Geld für die Behandlung der Menschen in Billstedt und Horn haben.“

„Es gibt nur drei Möglichkeiten als Arzt in Billstedt mit der Situation umzugehen“, sagt Dr. Gerd Fass, Vorstandsvorsitzender des Ärztenetzes Billstedt-Horn und Vorstandsmitglied der Landesgruppe Hamburg beim NAV-Virchow-Bund. „Jammern, weggehen oder machen. Wir haben uns für die dritte Option entschieden.“ Heinrich pflichtet ihm bei: „Wenn die politisch Verantwortlichen und Teile der Krankenkassen jahrzehntelang die falschen Akzente gesetzt haben, müssen wir vor Ort eben bessere Alternativen entwickeln.“

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