Geheimdokument: Bundesregierung plante Rx-Versandverbot Patrick Hollstein, 10.08.2023 10:21 Uhr
Wieder einmal haben sich DocMorris und Shop Apotheke (Redcare) bei der EU-Kommission beschwert. Es geht um den Zugang zum E-Rezept, eigentlich aber um die Wiedereinführung von Rx-Boni. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass Brüssel den beiden Versendern auch diesmal zu Hilfe eilt und ein neues Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland einleitet. Denn eigentlich war für die Behörde das Thema nie vom Tisch. Interne Dokumente zeigen, wie ignorant und verschlagen die Eurokraten mit Apothekenrecht umgehen – und dass die Bundesregierung kurz davor war, ein Rx-Versandverbot einzuführen.
Im Oktober 2012 war nach langem Hin und Her im Arzneimittelgesetz (AMG) klargestellt worden, dass die Rx-Preisbindung auch für Versender mit Sitz im Ausland gilt. Die sahen sich zwar nicht veranlasst, sich daran zu halten, sondern gewährten ihren Kundinnen und Kunden weiterhin offen oder auch versteckt Rx-Boni. Doch der Fall rief die EU-Kommission auf den Plan.
Am 4. Dezember 2012 informierte die Brüsseler Behörde die Bundesregierung darüber, dass sie mit der Neuregelung nicht einverstanden sei. Die Antwort, die Ende Januar geschickt wurde, überzeugte die Generaldirektion Binnenmarkt nicht, sondern wurde Anfang April abgewiesen. Am 21. November 2013 leitete die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein.
Plan B: Rx-Versandverbot
Nachdem der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Oktober 2016 überraschend die Rx-Boni der Holland-Versender für zulässig erklärt hatte, fanden im März und im Juni 2017 Gespräche zwischen der EU-Kommission und der Bundesregierung statt. Die gab dabei zu Protokoll, dass sie als Reaktion auf das Urteil erwäge, den Versandhandel mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln generell zu verbieten. Ob der damalige Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) es ernst meinte oder ob es nur ein Bluff war, ist nicht bekannt. Tatsächlich hatte er mehrfach für eine solche Lösung auch öffentlich geworben.
Da aber entgegen der Ankündigung nichts passierte, leitete Brüssel die zweite Stufe des Vertragsverletzungsverfahrens ein und verschickte am 8. März 2019 die sogenannte begründete Stellungnahme. Ende April setzte Berlin die Kommission darüber in Kenntnis, dass man mit einer Gesetzesänderung auf das Urteil reagieren werde. Am 15. Dezember 2020 wurde das Apothekenstärkungsgesetz (VOASG) verabschiedet, mit dem die Rx-Preisbindung aus dem Arzneimittel- ins Sozialrecht überführt wurde. Auch ausländische Versender dürfen seitdem gesetzlich Versicherten keine Preisvorteile mehr gewähren.
„Wichtigster Wettbewerbsvorteil“
In Brüssel fand diese Lösung erwartungsgemäß keine Zustimmung. Versandapotheken mit Sitz im Ausland würden durch das Verbot von Rabatten ihres „wichtigsten Wettbewerbsvorteils“ beraubt und damit faktisch vom Markt ausgeschlossen. Dass dies dem Gesundheitsschutz diene, sei vorgeschoben. Die bloße Verschiebung der Regelung in einen anderen gesetzlichen Kontext ändere nichts daran, dass hier ein Verstoß gegen EU-Recht vorliege, so die Einschätzung.
Umso erstaunlicher war es, dass das Vertragsverletzungsverfahren am 23. September 2021 tatsächlich eingestellt wurde. Doch wie interne und vertrauliche Unterlagen der Generaldirektion Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU (DG Grow) zeigen, hatte das Ganze wohl rein taktische Gründe.
Robuste Apotheken – vorerst
„Im Kontext der Covid-19-Pandemie müssen wir uns auf ein robustes Gesundheitssystem, einschließlich widerstandsfähiger Apotheken, verlassen können. Außerdem müssen sich Apotheken auf das Angebot neuer Dienstleistungen (Tests, Impfstoffe...) einstellen. Sie müssen sich auch insofern an die digitale Umgebung anpassen, als Deutschland beabsichtigt, in naher Zukunft ein System der elektronischen Verordnung einzuführen. Diese Veränderungen erfordern erhebliche Investitionen und brauchen Zeit.“
Um diesen Transformationsprozess zu begleiten und zu erleichtern, sollte der Druck auf traditionelle Apotheken durch den E-Commerce „zu diesem Zeitpunkt“ nicht erhöht werden, so die Einschätzung. „Daher wird es im aktuellen Wettbewerb nicht als angemessen erachtet, nationale Richtlinien zur Preisregulierung für Arzneimittel anzufechten. Daher wird vorgeschlagen, den Fall aus Opportunitätsgründen einzustellen.“
Wettbewerb durch Preise
Intern – und womöglich auch gegenüber den Versendern – wurde bereits angekündigt, dass man zu einem späteren Zeitpunkt wieder zuschlagen würde: „Sobald dieser Übergang auf dem richtigen Weg ist, wird es möglich sein, den Wettbewerb in der Branche auch durch Preise zu fördern. Die Kommission könnte die Möglichkeit prüfen, ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten.“
Dieser Zeitpunkt könnte jetzt gekommen sein. Anfang Juli haben DocMorris und Redcare (Shop Apotheke) eine neue Beschwerde an die EU-Kommission geschickt. Es geht um das Verbot von Rx-Boni in Verbindung mit der verzögerten und diskriminierenden E-Rezept-Einführung. Beide Themen seien eng miteinander verbunden: Man erwarte Chancengleichheit für alle Marktteilnehmer. In Brüssel dürfte man damit offene Türen einrennen.