Noch vor Jahresende will die Regierungskoalition Maßnahmen gegen Lieferengpässe bei Arzneimitteln beschließen. Dazu liegen Entwürfe für Änderungsanträge zum Faire-Kassenwettbewerb-Gesetz (FKG) auf dem Tisch. Diese hält Ursula Funke, Präsidentin der Apothekerkammer Hessen, allerdings für wirkungslos. Mehr noch: Sie wirft der Politik Ahnungslosigkeit und Untätigkeit vor.
„Die ganz aktuell angedachten Pläne der Regierung bringen für die Situation im Alltag nichts. Wenn die gerade kursierenden Änderungsanträge zum Faire-Kassenwahl-Gesetz stimmen, nach denen es erlaubt werden soll, nach 24 Stunden (!) Karenzzeit auch ein anderes wirkstoffgleiches Nicht-Rabattvertragsarzneimittel abgeben zu dürfen, kann man nur sagen: Die Verfasser haben von der aktuellen Situation nicht auch nur ansatzweise eine Spur von Ahnung und sie sind als Patient nicht betroffen“, so Funke im aktuellen Info-Brief „LAK Aktuell“ an die Kammermitglieder. Funke forderte die Politik auf, „mit uns Apothekern nach nachhaltigen und effektiven Lösungen zu suchen, mit denen die Versorgung der Patienten im Mittelpunkt steht“.
Die Lösungen müssen laut Kammerpräsidentin ohne finanzielle Nachteile für die Patienten – wie häufigere Zuzahlung, wenn nur kleine Packungsgrößen bei Dauermedikation lieferbar sind – umsetzbar sein und müssen eine schnelle und unbürokratische Versorgung ermöglichen, die kurzfristig den Alltag erleichtern, „indem uns – und auch den ärztlichen Kollegen – nicht wegen Centbeträgen die Zeit gestohlen wird“. Mittelfristig müssten Lösungen her, dass Produkte, die in Rabattverträgen sind, auch in ausreichender Menge für die Versorgung lieferbar seien. Lebensnotwendige Arzneimittel müssten in Europa produziert werden.
Funke: „Darüber hinaus müssen all die Politiker endlich aufwachen, die Versandhandel, Automaten, Preiswettbewerb etc. für ach so innovativ und digital halten: damit funktioniert Patientenversorgung gerade bei Lieferengpässen rein gar nicht.“ Hier zeige sich, dass die persönliche Beratung, das persönliche Gespräch, das Erklären, warum es ein anderes Arzneimittel gebe, wie das neue Device angewandt werde, unersetzlich sei. „Wenn dies nicht stattfindet, sinkt die Adhärenz erst recht, was immense zusätzliche Kosten für das Gesundheitssystem verursacht. Gerade in diesem Zusammenhang zeigt sich auch wieder, wie unerlässlich uneingeschränkte Gleichpreisigkeit im Rx-Markt ist“, so Funke. Es sei auch längst an der Zeit, dass in den Apotheken vor Ort für diesen erheblichen Mehraufwand entsprechend honoriert werde. Funke: „Aufwachen und Handeln bei Politik und Krankenkassen ist gefordert!“
Für jeden Apotheker, der tagtäglich in Offizin und Krankenhaus Patienten versorgen wolle, seien die Lieferengpässe nicht mehr zu ertragen, beschreibt Funke die aktuelle Lage. Seit sie in der Apotheke sei, habe sie „eine derartige Mangelverwaltung noch nicht erlebt – in Deutschland, mitten in Europa!“ Es gehe seit Monaten und gefühlt werde es täglich schlimmer, dass jede Apotheke hunderte nicht lieferbarer Arzneimittel in ihren Defekten führe. Häufige Wechsel – ob aut idem oder gar Umstellung auf einen ganz anderen Wirkstoff – konterkarierten Adhärenz und Therapietreue und bedürften tagtäglich noch mehr Beratung und Erklärung. Funke: „Wenn im Krankenhaus Operationen verschoben werden müssen, weil entsprechende Kochsalzinfusionslösungen zum Spülen nicht in ausreichender Menge lieferbar sind, wenn das Therapieregime einer Chemotherapie wegen nicht lieferbarer Wirkstoffe geändert werden muss, wenn das optimale Antibiotikum fehlt, kann man weder von Ärzten noch von Patienten Verständnis erwarten.“
Seit Jahren hätten die Apotheker gebetsmühlenartig auf die Folgen hingewiesen, „nur passiert bei der Politik rein gar nichts“, kritisiert Funke. Einzelne Medien griffen das Thema inzwischen auf, fragten nach und berichteten auch. Das verändere zwar nicht die Liefersituation, „aber für uns am HV-Tisch ist es ja schon fast eine Wohltat, wenn der ein oder andere Patient erklärt ‚Ach ja, das habe ich in der Zeitung gelesen / im Fernsehen davon gehört‘, wenn wir ihm sagen müssen ‚Ihr Präparat XY ist nicht zu bekommen, wir müssen zunächst mit dem Arzt sprechen‘“.
Die Apotheker wüssten, dass die Probleme zum großen Teil „hausgemacht“ seien: Alles müsse immer billiger werden, die Produktion von Wirkstoffen und Arzneimitteln finde zum großen Teil in China und Indien statt. Funke: „Wir fordern zum einen grundsätzlich mehrere Generika bei Rabattverträgen und auch die Produktion lebensnotwendiger Arzneimittel in Europa.“ Die Politik müsse hier umdenken: Globalisierung sei nicht alles, gerade nicht bei Arzneimitteln. Es gehöre zur Daseinsfürsorge, dass der Staat Maßnahmen ergreife, damit Arzneimittel für seine Bürger zur Verfügung stehen – da gehörten nicht nur die Präparate der „Notfalldepots“ dazu, sondern alle lebensnotwendigen Arzneimittel. „Preislich ist die Zitrone im generischen Markt ausgepresst – auch hier muss ein Umdenken stattfinden, damit die Produktion in Europa wieder möglich wird“, so Funke.
Aktuell berät die Koalition ein Maßnahmenpaket. Mit einer Meldepflicht soll Pharmafirmen und Großhändler unter anderem vorgeschrieben werden, die Bundesbehörden über Lagerbestände und drohende Lieferengpässen bei versorgungsrelevanten Arzneimitteln zu informieren. Bisher gibt es nur freiwillige Angaben, die das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erfasst. Auch sollen künftig behördliche Vorgaben an Pharmafirmen und Großhändler zur Lagerhaltung wichtiger Medikamente erlaubt sein.
Über die Neuregelungen wird derzeit in der Koalition beraten, sie sollen an schon laufende Gesetzespläne angehängt werden. In Ausnahmefällen sollen demnach auch Medikamente eingesetzt werden können, die nicht in deutscher Sprache gekennzeichnet sind – wenn der Arzt sie direkt bei Patienten anwendet. Zu den Plänen zählen auch mögliche Abweichungen von Rabattverträgen: Stehen Rabattpräparate nicht zur Verfügung, sollen Apotheker nach 24 Stunden alternative Mittel abgeben dürfen.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) kündigte zudem an, das Thema in der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte 2020 anzugehen. Ziel sei, das europäische Vergaberecht zu überarbeiten. Es solle bei Zuschlägen nicht nur nach dem Preis gehen, sondern auch danach, wo Produktionsstandorte seien.
Zudem gehe es um Lieferketten, die eine Lieferfähigkeit garantieren. Dafür brauche es eine Änderung auf EU-Ebene. Er sei zuversichtlich, dass dies möglich sei, da Deutschland nicht das einzige Land mit solchen Problemen sei. Das BfArM hat fast 290 Meldungen über Lieferengpässe bei Medikamenten erfasst – bei rund 103.000 zugelassenen Arzneimitteln in Deutschland. Bei Lieferengpässen können aber oft alternative Medikamente verabreicht werden.
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