Vergütung, Markt, Regulierung – alles im Umbruch

Fünf Jahre Cannabis als Medizin: Versorgung gegen alle Widerstände Tobias Lau, 22.03.2022 13:24 Uhr

Cannabis als Medizin hat sich etabliert – in der Fläche ist es aber noch nicht angekommen. Foto: Science Foto Library
Berlin - 

Cannabis hat sich mittlerweile als Medizin etabliert. Und dennoch: Fünf Jahre nach seiner Einführung leidet die Versorgung zwar nicht mehr an den Kinderkrankheiten der Anfangszeit. Die regulatorischen Daumenschrauben, die damals bewusst ins Gesetz geschrieben wurden, behindern eine patientengerechte Versorgung aber genauso wie die Reform der Vergütung von 2020. Damit eine reibungslose Versorgung künftig in der Fläche möglich ist, braucht es eine Reform – insbesondere mit Blick auf die geplante Legalisierung als Genussmittel.

Medizinisches Cannabis wird seit jeher stiefmütterlich behandelt – bestenfalls. Schon die Einführung war keinesfalls ein Herzensprojekt der damaligen Bundesregierung: Vielmehr hatte das Bundesverwaltungsgericht im April 2016 aufgezeigt, dass dringender Reformbedarf besteht, als es in einem wegweisenden Urteil entschied, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) einem an Multipler Sklerose erkrankten Mann eine Ausnahmegenehmigung für den Anbau von Cannabis erteilen muss. Ein knappes Jahr später hatte der Gesetzgeber dann die Grundlage dafür geschaffen, dass sich dieser Fall nicht tausendfach wiederholt.

Im März 2017 trat das „Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften“, besser bekannt als „Cannabis-als-Medizin-Gesetz“, in Kraft. Es regelt nicht nur die Erstattung durch die Krankenkassen und die Durchführung einer viel kritisierten nicht-invasiven Begleiterhebung zur Evaluierung der Reform, sondern auch die Einrichtung der staatlichen Cannabisagentur, die an die Bundesopiumstelle beim BfArM angesiedelt ist. Sie soll den Anbau von medizinischem Cannabis in Deutschland steuern und kontrollieren. Das BfArM startete daraufhin eine Ausschreibung für den deutschen Anbau unter härtesten Qualitäts- und vor allem Sicherheitsbedingungen. Wegen handwerklicher Fehler zog sich das Verfahren, bis im April 2019 die Zuschläge an die Hersteller Aphria, Tilray und Demecan gingen.

Insgesamt 10,4 Tonnen über einen Zeitraum von vier Jahren sollen sie liefern – nur ein Bruchteil des Gesamtbedarfs, der bis heute hauptsächlich durch Importe gesichert wird. Unter Importeuren und Großhändlern startete daraufhin ein Goldrausch, ihre Zahl wuchs sprunghaft – selbst spezialisierten Apotheken fällt es heute oft schwer, bei all den Anbietern und Produkten, die es mittlerweile gibt, den Überblick zu behalten. Ein Großhändler hat indes eine Sonderstellung: Cansativa aus der Nähe von Frankfurt am Main erhielt den BfArM-Zuschlag für den Vertrieb des staatlichen Cannabis. Diese Ausgangslage präsdestiniert geradezu für eine große Zukunft – das sehen auch Investoren wie Snoop Dogg so.

Doch das Gesetz hat nicht nur die notwendigen Strukturen geschaffen, sondern durch einige restriktive Regulierungen gleich dafür gesorgt, dass es bis heute in der medizinischen Cannabisversorgung Schwierigkeiten für Patienten, Apotheker und Ärzte gibt, die die Therapie spürbar erschweren – allen voran der Genehmigungsvorbehalt der Krankenkassen. Denn anders als bei anderen Arzneimitteln müssen Patienten nach einer erfolgten Verordnung die Erstattung erst beantragen und dabei neben vielem anderen medizinisch darlegen, dass alle sonstigen Therapieoptionen bereits ausgeschöpft sind sowie in der spezifisch vorliegenden Indikation eine „nicht ganz fernliegende Aussicht“ darauf besteht, dass mit Cannabis ein therapeutischer Erfolg erzielt werden kann.

„Es ist immer noch so, dass rund ein Drittel der Patienten abgelehnt wird – und das ist über die vergangenen fünf Jahre relativ konstant, was eigentlich gar nicht sein kann, denn Ärzte und Patienten haben dazugelernt. Da ist ein systemischer Fehler“, sagt Jan P. Witte. Der Internist hat bereits vor 2017 in einem Berliner Krankenhaus selbst Patienten mit Cannabisbehandelt und war über mehrere Jahre Medical Director von Aphria sowie später der Sanity Group, heute ist er einer der profiliertesten Experten für medizinisches Cannabis hierzulande. „Es ist Zeit, konkret über den Genehmigungsvorbehalt zu sprechen und ihn endlich zu streichen. Denn es hat sich gezeigt, dass die Ärzte verantwortungsvoll damit umgehen und die Befürchtungen von Kiffen auf Rezept sich nicht bewahrheitet haben.“

„Wie kann man einem Patienten etwas vorenthalten, das ihm hilft?“

Tobias Loder wird da noch deutlicher und kritisiert vor allem die Vorgabe, wonach alle anderen Therapieoptionen ausgeschöpft sein müssen – selbst wenn sie wie beispielsweise im Fall von Opioiden mit weitaus schwereren Nebenwirkungen für die Patienten einhergehen können. „Das macht keinen Sinn. Wenn ich als Arzt einen Patienten habe, bei dem ich weiß, dass ihm Cannabis hilft, kann es doch nicht sein, dass ich dann erst alles andere an ihm ausprobieren muss!“, sagt der Inhaber der Apotheke Lux99 in Köln, die mit ihrem Portal Cannabis-Apotheke.de zu den wichtigsten Pionieren der Cannabisversorgung hierzulande gehört. „Wenn der Arzt der Meinung ist, dass das hilft, dann darf da nicht in eingegriffen werden. Das ist nicht nur unlogisch, sondern auch inhuman. Wie kann man einem Patienten etwas vorenthalten, das ihm hilft?“

Seit fünf Jahren beobachtet er aus erster Hand, wie sich die Cannabisversorgung für die Apotheken entwickelt – und ist froh, dass er so früh eingestiegen ist. „So wie ich mich nie an Zytostatika herangetraut habe, würde ich mich heute nicht mehr an Cannabis herantrauen“, räumt er ein. „Wir haben das von Anfang an gemacht und das war gut so. Aber heute noch da einzusteigen – das kann man schon machen, wenn man zum Beispiel genug Verordner ringsherum hat, es ist aber mit viel Aufwand und Fachwissen verbunden. Und das ist kein Buchwissen, sondern angelerntes Wissen, das man sich erst einmal durch jahrelange Praxis selbst erarbeiten muss.“ Auch das ist ein Grund, warum sich bisher nur ungefähr 2000 bis 3000 Apotheken in Deutschland auf Cannabis spezialisiert haben. Viele von ihnen sind mittlerweile im Verband Cannabis versorgender Apotheken (VCA) organisiert, der nicht zuletzt auch deshalb entstanden war, weil die Abda nach 2017 kein Interesse daran zeigte, dem Thema größere Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

„Das Produkt ist nicht einfach, die Zielgruppe ist nicht einfach“

Der Mangel an Ärzten, die sich befähigt und motiviert sehen, Cannabis zu verordnen, hat zwischenzeitlich dazu geführt, dass Start-ups wie Algea Care oder Nowomed ein Geschäftsmodell aus der Linderung der Versorgungsprobleme gemacht haben. Denn wer für einen Arztbesuch hunderte Kilometer fahren müsste, hat von telemedizinischer Betreuung einen erheblichen Vorteil. Aber ist es auch das Geschäft, das viele Apotheken abhält: Denn vor allem, wenn man nicht regelmäßig und in großen Mengen abgibt, ist die Cannabisversorgung für die wenigsten rentabel – und dieser Missstand hat sich sogar noch verschärft.

„Es rentiert sich heute weniger als noch vor einigen Jahren“, sagt Melanie Dolfen, die mit ihren BezirksApotheken die wichtigste Cannabisversorgerin in Berlin ist. Dafür habe insbesondere die neue Taxierung seit 2020 – bei der der 90-prozentige Rezepturaufschlag durch Staffelpreise ersetzt wurde – beigetragen. „Für die Apotheken, die sich überlegt hatten, vielleicht doch ein paar Patienten zu versorgen, war das abschreckend.“ Denn Blüten, Extrakte & Co. machen erheblich mehr Arbeit als die meisten anderen Arzneimittel. „Das Produkt ist nicht einfach, die Zielgruppe ist nicht einfach. Für eine normale Apotheke ist das sehr aufwendig und das ist natürlich schlecht für die Versorgung“, sagt Loder.

„Gerade wenn Patienten neu eigestellt werden, brauchen sie sehr viel Beratung, in einem Ausmaß, das man sonst nicht hat. Es macht aber auch viel Spaß, da das gelernte Wissen anzuwenden und zu sehen, dass viele Patienten sehr dankbar dafür sind“, so Dolfen. Hinzu kommt der organisatorische und bürokratische Aufwand. „Es gibt um die 80 Blütensorten und um die 50 Öle. Wir haben entschieden, dass wir alles dahaben wollen – das ist eine große Herausforderung“, erklärt Loder. „Wir müssen einmal im Monat eine physische Inventur machen und die aufs Zehntelgramm genau, inklusive der Anbrüche. Das ist ein enormer Aufwand.“

Auch Auflagen der Bundesopiumstelle wie 26 cm dicke Stahlbetonwände für den Tresor seien absolut praxisfremd. „Da würde ich mir mehr Flexibilität wünschen“, sagt Loder. Nicht zu vergessen, dass es sich um Betäubungsmittel handelt: „Die BtM-Dokumentation ist die Hölle. Es ist so viel Papierkram und die Behörden haben meist keine Ahnung von gar nichts.“ Dolfen bemängelt vor allem die unterschiedliche Handhabung der regionalen Behörden, die die Arbeit weiter erschweren würde. Beispielsweise bei der Prüfung: „Darüber müssen wir uns langfristig unterhalten. Man muss die nicht abschaffen, aber einfacher gestalten. Wir können nicht für jede Dose eine Dünnschichtchromatographie laufen lassen. Schnelltests nutzen wir natürlich auch, aber die werden ja nicht von jeder Behörde anerkannt.“

Marktkonsolidierung kommt erst noch

Immerhin hat sich die Versorgungslage stabilisiert. „Anfangs hatten wir gar keine Probleme, dann gab es massive Engpässe und mittlerweile sind wir gut versorgt, vielleicht sogar überversorgt. Das überfordert manche Patienten auch und verunsichert sie“, fasst es Dolfen zusammen. Loder sieht es ähnlich: Es gäbe momentan ein Überangebot und die Hersteller wüssten nichts anderes zu tun als die Preise zu senken. „Die sind relativ hilflos und haben alle kein Vertriebskonzept. Wenn man deshalb die Preisspirale nach unten andreht, dann ist das schade“, erklärt er. „Die Firmen haben auch kein Image, das sind alles Importeure und Großhändler. Die machen ohne Zweifel einen guten Job, aber sie stehen als Unternehmen für nichts.“ Er erwarte, dass die wirkliche Konsolidierung des Marktes erst noch kommt. „Viele kleinere Unternehmen haben zwar die nötigen Lizenzen, aber man sieht ja, dass es ein paar große Player gibt und die meisten kleinen vor sich hin krebsen.“

Die Veränderungen am Markt würden einer breiteren Abdeckung durch Cannabis-versorgende Apotheken ebenfalls entgegenstehen. So seien viele Hersteller dazu übergegangen, größere Gebinde anzubieten. „Das gab es vorher kaum, ist aber für spezialisierte Apotheken mit größerem Absatz gut, weil wir weniger testen müssen“, sagt Loder. „Für die kleinen Apotheken hingegen ist es eher schlecht.“ Denn Cannabis hat ein vergleichsweise kurze Verfalldauer – wer nicht genug davon abgibt, dem verfällt ein großer Teil der Ware schlicht im Lager.

Witte wiederum befürchtet, dass die Veränderungen am Markt auch zu Abstrichen in der Qualitätssicherung führen könnten. „Meiner Meinung nach sollten beispielsweise nur noch Produkte mit inhalativem Standard verkehrsfähig sein. Es gibt keine medizinische Indikation für einen Tee, das sehen alle Fachgesellschaften so“, sagt er. „Meine Befürchtung ist, dass unter dem großen Kostendruck der Rabattverträge Anreize geschaffen werden, zu sparen. Und wenn es rechtlich möglich ist, ohne inhalativen Standard in den Markt zu bringen, dann wird das auch getan.“ Umgekehrt müssten mehr finanzielle Anreize für Apotheken geschaffen werden, um die Zahl der Versorger zu erhöhen. „Die Situation ist, dass es sich faktisch um ein Fertigarzneimittel handelt, die Apotheke aber regulatorisch gezwungen ist, es wie ein Rezepturarzneimittel zu behandeln. Diese Arbeitszeit muss adäquat abgebildet werden“, fordert er. „Die Vergütungssysteme müssen da klarer geregelt sein, damit auch langfristig sichergestellt ist, dass Apotheken kostendeckend Cannabis abgeben können.“

Viel Arbeit und Bürokratie, schwierige Vergütungslage und ein unübersichtlicher Markt, der sich immer noch nicht ganz konsolidiert hat – das klingt eher nach einer schlechten Bilanz von fünf Jahren medizinischem Cannabis. Die Schwächen des Systems sollten aber nicht über den großen Fortschritt hinwegtäuschen, erklären alle drei unisono. „Es gibt eine große Diskrepanz zwischen der Intention des Cannabisgesetztes und der Realität, vor allem wegen einiger Einschränkungen, über die man reden muss und die uns zwingen, da nachzujustieren“, sagt Witte. „Generell muss man aber eine positive Bilanz ziehen. Es gibt tausende Patienten, die mit Cannabinoiden erfolgreich behandelt werden. Für viele von ihnen ist das ein extremer Erfolg und eine große Erleichterung.“

Den Apotheken wiederum, die sich auf die Cannabisversorgung spezialisiert haben, hat sich in den vergangenen Jahren auch ein neues Feld zur Profilierung eröffnet. „Was ich gut finde an dem Konstrukt, ist, dass die Arbeit zwischen Apotheker, Arzt und Patient auf Augenhöhe stattfindet. Der Apotheker führt nicht nur aus, was der Arzt sagt, sondern seine Meinung ist sehr wichtig“, sagt Dolfen. „Das macht mir sehr viel Spaß und ich würde es mich freuen, wenn das auch in anderen Bereichen so laufen würde.“ Loder bestätigt das: „Es kommt ja auch nicht jeden Tag vor, dass Ärzte Apotheker nach Rat fragen. Wir nehmen wahr, dass die Akzeptanz zunimmt und sehen immer häufiger, dass Ärzte von sich aus Cannabis verordnen, nicht mehr auf Frage des Patienten hin. Das gewinnt als Ergänzung zur klassischen Therapie immer mehr an Bedeutung.“

Genuss- vs. Arzneimittel

Und wie geht es weiter? Die nahe Zukunft könnte noch einige Überraschungen hervorbringen, denn nicht nur soll die Regulierung von medizinischem Cannabis bald nachgeschärft werden – und vom Genehmigungsvorbehalt über die Vergütung bis zu den Prüfungen gibt es viel Reformbedarf. Auch bei der geplanten Legalisierung von Cannabis als Genussmittel stehen die Apotheken an vorderster Front, schließlich dürften sie nach aktuellem Stand als lizenzierte Fachgeschäfte infrage kommen. „Ich glaube nicht, dass die Legalisierung negative Auswirkungen auf das Geschäftsmodell der Apotheke hat – im Gegenteil, es wird die Akzeptanz weiter steigern“, sagt Loder. „Es dauert sicherlich noch mindestens zwei Jahre, aber wenn es sich dann abzeichnet, ist das natürlich eine unternehmerische Chance. Und rein gesellschaftlich ist es meiner Meinung nach längst überfällig.“

Indirekt könnte die Freigabe auch Auswirkungen auf die Anwendung von Cannabis im therapeutischen Bereich haben, allein schon, weil es nicht mehr als Betäubungsmittel gelistet wäre. Denkbar sei eine Anwendung auch für leichtere Indikationen wie Schlafstörungen, sagt Dolfen. „Ich träume ja davon, dass es irgendwann mal in einer Leitlinie steht.“ Den Verkauf als Genussmittel könne sie sich unter bestimmten Bedingungen vorstellen, Priorität werde aber immer die medizinische Versorgung haben. „Legalisierung ist für mich eng mit Jugendschutz und gesundheitlicher Aufklärung verbunden, damit wir uns keine neuen Probleme schaffen“, sagt sie. „Ansonsten mag ich gar nicht so gern in die Glaskugel schauen, sondern würde lieber unsere Ansprüche klarmachen: Hürden für Patienten abbauen und die klare Trennung von Medizin und Genussmittel sicherstellen.“