BMG sieht kein Retax-Risiko Alexander Müller, 24.04.2017 14:21 Uhr
Die Rollenverteilung im Rechtsstaat ist klar: Der Gesetzgeber gibt die Gesetze, die Gerichte legen sie aus. Dabei ist vor allem der Wortlaut entscheidend, zur Interpretation wird aber auch der „Wille des Gesetzgebers“ herangezogen, den die Gerichte etwa aus der Entstehungsgeschichte ableiten. In dieser Hinsicht könnte es spannende neue Retax-Verfahren geben, denn die Krankenkassen kündigen an, den klar formulierten Willen des Gesetzgebers sehenden Auges zu ignorieren.
Es geht um das Verbot exklusiver Verträge zwischen Kassen und Einzelapotheken in der Zytostatika-Versorgung. Das Modell hat sich aus Sicht der Politik nicht bewährt, die Abschaffung wird mit der Versorgungssicherheit begründet. Mit dem Arzneimittel-Versorgungsstärkungsgesetz (AM-VSG) werden solche Verträge daher verboten und bestehende Vereinbarungen aufgelöst.
Allerdings hat der Gesetzgeber den Kassen eine Restlaufzeit von drei Monaten für ihre Verträge zugestanden. Wird das AM-VSG noch in diesem Monat im Bundesgesetzblatt veröffentlicht, ist demnach Ende Juli Schluss. Umstritten ist jetzt allerdings, ob die Übergangsfrist nur zwischen den Vertragspartnern gilt oder für alle. Davon hängt ab, ob Apotheken ohne Zytovertrag sofort wieder alle Patienten versorgen dürfen, oder ob deren Recht auf freie Apothekenwahl bis zum Sommer eingeschränkt bleibt.
Die großen Kassen gehen von Letzterem aus: Der Verbund aus Barmer, TK und KKH hat bereits angekündigt, in der Übergangszeit auf Grundlage der Verträge zu retaxieren. Und auch beim AOK-Bundesverband geht man von einer „Exklusivität der Zytostatikaverträge während der Übergangsfrist nach Inkrafttreten des AM-VSG aus. Die Mitgliedskassen hatten in fünf Bundesländern entsprechende Verträge geschlossen. Die AOK Hessen hat dem Vernehmen nach bereits onkologische Praxen und Zyto-Apotheker über das Fortbestehen der Verträge informiert.
Tatsächlich lässt sich der Wortlaut des AM-VSG so auslegen, doch das BMG hat sich wiederholt und sehr eindeutig anders positioniert. So stellte eine Sprecherin des Ministeriums als Reaktion auf die Ankündigung der Kassen erneut klar: „Es herrscht Apothekenwahlfreiheit ab Inkrafttreten des AM-VSG.“ Offenbar glaubt man im Ressort von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) noch nicht daran, dass die Kassen mit ihren Retxationen tatsächlich ernst machen werden: „Wir sehen keine Schwierigkeiten für die Apotheken“, so die Sprecherin.
Zuvor hatte schon die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesgesundheitsministerium (BMG), Annette Widmann-Mauz (CDU), die Haltung ihres Hauses sehr deutlich zum Ausdruck gebracht: Das freie Apothekenwahlrecht und der Wegfall der Versorgungsexklusivität gelte auch für solche Verträge, die in Kenntnis der bereits im Gesetzentwurf vorgesehenen Streichung der Exklusivverträge kurzfristig vor Inkrafttreten des AM-VSG geschlossen worden seien, schrieb sie an den Bundestagsabgeordneten Tino Sorge. „Insoweit ist auch keine Umgehung der kommenden gesetzlichen Regelungen durch kurzfristige Vertragsabschlüsse realisierbar“, so Widmann-Mauz.
In einer früheren Fassung des AM-VSG sollte die sofortige Wiederherstellung der Apothekenwahlfreiheit sogar explizit ins Gesetz aufgenommen werden. Dass dieser Passus später wieder gestrichen wurde, sehen die Kassen als Beleg, dass der Gesetzgeber ihnen die Übergangsfrist einräumen möchte. Sie berufen sich vor allem auf ein Urteil des Bundessozialgerichts, dass die Exklusivität der Verträge 2015 bestätigt hatte. An dieser Sachlage ändere sich bis zum Ende der Übergangsfrist nichts, so das Argument der Kassen.
Der eigentliche Grund für die Streichung der Klarstellung im Gesetz war dem Vernehmen nach aber eine Art juristisches Hygienebewusstsein des Gesetzgebers. Ohnehin wäre der Hinweis zur Apothekenwahlfreiheit nur eine Klarstellung gewesen, und solche Doppelungen im Gesetzestext seien nie schön, heißt es aus dem Ministerium. Mit dem Verbot der Exklusivverträge sei die Sache klar geregelt, da müsse der Gesetzgeber nicht auch noch schreiben, dass es wirklich gilt.
Im BMG hat man noch Hoffnung, dass sich die Kassen diese klare Ansage doch zu Herzen nehmen und nicht retaxieren werden. Ansonsten stünden natürlich im Rechtsstaat alle Wege offen, heißt es aus dem Ministerium.
Mit anderen Worten: Dann wären die Gerichte dran, den Willen des Gesetzgebers zu interpretieren. Denn verbieten kann das BMG den Kassen ihre Retaxationen nicht. Angesichts der klaren Äußerungen aus dem Ministerium wäre es allerdings schon ein ziemlicher Affront der Kassen gegenüber dem Gesetzgeber, wenn sie ihre Verträge mit aller Macht durchboxten. Dass die Ersatzkassen überhaupt noch mit ihren Verträgen starten, hat bei der Politik ohnehin schon Kopfschütteln ausgelöst. Selbst bei anderen Kassen hat man dafür wenig Verständnis.