Es ist mal wieder Großkampftag in Luxemburg. Entsprechend füllt sich der Sitzungssaal III, Ebene 6, beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) schon etwa eine Stunde vor Verhandlungsbeginn. Es geht formal um die relativ bescheidene Frage, ob die niederländische Versandapotheke DocMorris Mitgliedern der Deutschen Parkinson Vereinigung (DPV) Rx-Boni gewähren darf. Doch alle wissen: An dem Ausgang des Verfahrens hängt die komplette Preisbindung. Die Standesvertretung der Apotheker ist daher ebenso stark vertreten wie die europäischen Versender. Entschieden wurde heute noch nichts, der Generalanwalt wird am 2. Juni seine Schlussanträge stellen.
Im Ausgangsverfahren hatte die Wettbewerbszentrale gegen ein Bonusmodell von DocMorris mit der DPV geklagt, das Oberlandesgericht Düsseldorf (OLG) hatte dem EuGH vor einem Jahr drei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: Ob es sich beim Rx-Boni-Verbot um eine Maßnahme gleicher Wirkung handelt (Warenverkehrsfreiheit), wie diese zweitens zu rechtfertigen wäre und drittens, wie hoch die Anforderungen an eine solche Feststellung sein müssten. Die 1. Kammer des EuGH hatte die Prozessbeteiligten im Vorfeld aufgefordert, sich auf die Rechtfertigung der deutschen Rx-Preisbindung zu konzentrieren.
Spätestens seit der Vorlage an den EuGH ist aus dem Streit um Boni ein Kampf um die Preisbindung geworden. Gefühlt wurden daher heute auch nicht Vertreter der Wettbewerbszentrale und der DPV von den EU-Richtern befragt, sondern die ABDA und DocMorris. Für die Preisbindung zogen Dr. Claudius Dechamps und Professor Dr. Jürgen Schwarze in die Schlacht, DPV/DocMorris hatte Kristina Nordlander und Maarten Meulenbelt von der Brüsseler Kanzlei Sidley Austin ins Rennen geschickt. Beide Seiten durften zunächst ihre Plädoyers vortragen.
Im Mittelpunkt der Verhandlung standen aber die Vertreter der Bundesregierung sowie der EU-Kommission – ebenfalls als Antipoden. Beide wurden von den Fragen des irischen Richters Eugene Regan zum Teil in Bedrängnis gebracht. Der wollte von der EU-Kommission etwa wissen, warum eine Preisbindung als milderes Mittel nicht möglich sein sollte, während ein vollständiges Rx-Versandverbot nach europäischem Recht zulässig sei.
Der Vertreter der Kommission gab zu, dass es der Regierung freigestellt sei, Rx-Versand zu verbieten. Wenn sie diesen aber erlaube, müssten die Grundfreiheiten beachtet werden. Aus Sicht der Brüsseler Behörde hat die deutsche Regierung zwar einen Bewertungsspielraum, rein theoretische Überlegungen zur Sicherstellung der flächendeckenden Versorgung seien aber nicht ausreichend. Ansonsten seien die Maßnahmen der Mitgliedstaaten überhaupt nicht mehr gerichtlich überprüfbar.
Der Vertreter der Bundesregierung hielt dagegen, dass man sehr wohl Alternativen geprüft, aber eben für nicht geeignet gehalten habe. Eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit mit einem System der Bedarfsplanung etwa sei in Deutschland wegen des Rechts auf freie Berufsausübung unzulässig. Die Preisbindung sei ein Bestandteil, um die flächendeckende Versorgung zu sichern. Dazu zählten ferner etwa das Fremdbesitzverbot, die Notdienstregelung oder Einschränkungen im Werberecht.
Dieses System würde aus Sicht der Bundesregierung unterlaufen, wenn Rx-Boni erlaubt würden. Denn solche Rabatte zielten klar auf einen Verdrängungswettbewerb. „Irgendwann würde die Akutversorgung nicht mehr funktionieren.“ Die Regierung müsse hier nicht abwarten, bis dies passiert. „Man kann von einem Mitgliedstaat keine Experimentiergesetzgebung im Bereich der Gesundheitsversorgung erwarten“, so der Vertreter der Regierung.
Der irische Richter hielt der Bundesregierung vor, zur Verteidigung des Preisrechts dieselben Argumente vorzutragen wie seinerzeit im EuGH-Verfahren zum Versandhandel. Dieser sei jedoch von Deutschland zugelassen worden – ohne dass dies maßgeblichen Einfluss auf die flächendeckende Versorgung gehabt hätte, so Regan.
Damals habe man die Befürchtung gehabt, im Versandhandel nicht alle Regelungen durchsetzen zu können – wie eben das Preisrecht, antwortete der Regierungsvertreter. Es habe sich gezeigt, dass es gehe. Der Gesetzgeber habe das allgemeine Rabattverbot 2012 noch einmal klargestellt. Kleine Ausnahmen könne man hier nicht riskieren, weil es dabei nicht bleiben würde und jeder diese Ausnahmen für sich unterschiedlich interpretieren würde.
Der EU-Kommission geht es nach eigenem Bekunden gar nicht um das deutsche Preisrecht, sondern lediglich um dessen Wirkung auf ausländische Versandapotheken. Diese seien im Wettbewerbsnachteil – sogar gegenüber deutschen Versendern, die immer noch ein Vor-Ort-Geschäft betreiben dürften. Wieder war es Richter Regan, der nachhakte: Wie überhaupt zusätzliche Boni möglich seien? Er wurde auf die Werbewirkung verwiesen.
DocMorris beklagt seit dem Boni-Verbot – das die Versandapotheke übrigens immer wieder ignoriert hat – einen Verlust von 80 Prozent an Neukunden. ABDA-Anwalt Dechamps konterte, dass dies eben ein verlangsamtes Wachstum sei, das viele Gründe haben könnte. Im Übrigen liefen die Geschäfte von DocMorris auch in den Jahren 2013 und 2014 ausweislich der Geschäftsberichte doch nicht so schlecht. Diese hätten übrigens auch Vorteile gegenüber Kunden, etwa die bequeme Bestellung abends von zu Hause aus oder die anonyme Beschaffung von Arzneimitteln gegen vermeintlich peinliche Erkrankungen.
Aus Sicht der Versandapotheke und der EU-Kommission müsste Deutschland beweisen, dass es keine milderen Mittel als die Preisbindung gebe, um die flächendeckende Versorgung zu gewährleisten. Ähnlich habe zuletzt der EuGH in einem Verfahren zu Scotch Whisky entschieden, erinnerte Anwältin Nordlander. Die Bundesregierung habe die Festpreise aber in keiner Weise gerechtfertigt. Stattdessen habe es immer wieder Gesetzesänderungen gegeben, aus denen die Apotheker gestärkt hervorgegangen seien. Die Apotheker zählten zu den Topverdienern der deutschen Freiberufler, so Nordlander.
Bei DocMorris sieht man natürlich Alternativen: Nordlander brachte eine ferngesteuerte Arzneimittelmaschine in einem entlegenen Ort ins Spiel, die die Versorgung sicherstellen könne. Die gibt es zwar noch nicht, doch DocMorris hatte im Vorfeld der Verhandlung ein entsprechendes Pilotprojekt öffentlich gemacht.
Der Vertreter der EU-Kommission sprach zusätzlich über Apothekenbusse – die von der Bundesregierung als bloße Behelfslösung zurückgewiesen wurden. Die Preisbindung ist jedenfalls aus Sicht der Brüsseler Behörde viel zu unspezifisch, um die Versorgung auf dem Land zu garantieren. Es handele sich vielmehr um eine allgemeine Maßnahme, die sämtliche Apotheken vor jeglichem Wettbewerb abschirme, so der Vertreter der Kommission.
Die Regierung könne als Alternative etwa die Attraktivität des Landarztdaseins erhöhen und so Apotheken ein Auskommen sichern. Denn die ließen sich sowieso nur da nieder, wo sie die meisten Rezepte bekämen. Für echte Engpässe sehe das Apothekengesetz schon heute die Möglichkeit vor, dass eine Gemeinde selbst eine Apotheke betreiben könne.
Der Vertreter der Regierung hält es für den falschen Ansatz, erst die Versorgung zusammenbrechen zu lassen, damit dann der Steuerzahler einspringt – und das alles für den Profit einzelner Unternehmen. „Wettbewerb in diesem Bereich kann kein Selbstzweck sein.“
Schwarze wies in seinem Plädoyer für die Wettbewerbszentrale darauf hin, dass es sich die deutschen Gerichte mit Rx-Boni nicht leicht gemacht hätten. Am Ende habe sich der Gemeinsame Senat der obersten Bundesgerichte bei seiner Begründung des Boni-Verbots an der EuGH-Rechtsprechung orientiert. Demnach sei die Preisbindung mit dem Gesundheitsschutz zu begründen.
Der Generalanwalt interessierte sich in diesem Zusammenhang für das deutsche Notdienstsystem. Er konnte kaum glauben, dass man nachts um 2 Uhr auf dem flachen Land eine Apotheke aufsuchen kann. Der Vertreter der Regierung erklärte in Grundzügen das rotierende Notdienstsystem und verwies dabei auf die unterschiedliche Belastung von Land- und Stadtapotheken. Gerade für die Landapotheken sei die Preisbindung daher elementar wichtig. Generalanwalt Maciej Szpunar fragte noch, ob es Obergrenzen für Miet- oder Personalkosten von Landapotheken gebe. Natürlich verneinte der Vertreter der Bundesregierung dies.
Nach zwei Stunden wurde die Verhandlung geschlossen. Der Generalanwalt wird am 2. Juni seine Schlussanträge stellen, was ebenfalls in öffentlicher Sitzung geschieht. Bei einem weiteren Termin verkündet der EuGH dann seine Entscheidung.
Der Ausgang des Verfahrens muss als offen angesehen werden. Auch von den zahlreichen Prozessbeobachtung wollte sich niemand festlegen. Von DocMorris waren die Vorstände Olaf Heinrich und Max Müller in Luxemburg, außerdem Walter Oberhänsli, CEO der Mutterfirma Zur Rose. Michael Köhler, Chef der Europa Apotheek Venlo (EAV) war ebenfalls vor Ort.
Doch auch die Apotheker waren gut vertreten, unter anderem mit ABDA-Chef Jurist Lutz Tisch sowie Vertretern der Apothekerkammern Nordrhein und des Saarlandes. Kammerpräsident Lutz Engelen war der einzige, der ein bisschen Einblick in sein Seelenleben gab: „Ich gehe optimistischer aus dem Saal heraus, als ich hineingegangen bin.”
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