Wunder geschehen doch noch: Die Apotheker bekommen im Streit um die Rx-Festpreisbindung eine zweite Chance. In einem eigentlich schon verloren geglaubten Verfahren hat der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden, dass sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) womöglich noch einmal mit den Rx-Boni von DocMorris befassen muss. Denn im ersten Prozess seien zu viele Pannen passiert. Wegen eines kleinen Verfahrensfehlers ist nun alles wieder offen.
In dem Verfahren ging es um die Freundschaftswerbung von DocMorris: Kunden konnten bis zu 10 Euro bekommen, wenn sie Bekannte dazu brachten, ein Rezept einzuschicken. Ab dem zweiten geworbenen Neukunden gab es 10 Prozent Rabatt auf nicht verschreibungspflichtige Produkte. Da Rx-Boni nach der bisherigen Rechtsauffassung unzulässig waren, sollten es auch Gutschriften für Dritte sein, so die Überzeugung der Apothekerkammer Nordrhein (AKNR), die gegen das Modell klagte.
Das Oberlandesgericht Köln (OLG) verbot die Sofortprämie, erlaubte aber den OTC-Rabatt. Hier rechnete man damit, dass der BGH, dessen Rechtssprechung zu Rx-Boni sechs Jahre lang eindeutig war, sich in dem Fall zu den neuen Vorzeichen äußern oder den Fall sogar beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vorlegen würde. Doch im November verwiesen die Richter aus Karlsruhe die Sache aus formalen Gründen zurück, ohne sich inhaltlich mit der Zulässigkeit von Rx-Boni zu beschäftigen.
Jetzt liegen die Urteilsgründe vor – und überraschenderweise ist der BGH mehr als deutlich geworden. Formal geht es nur um einen Verfahrensfehler: Weil die Vereinbarkeit der Preisbindung für ausländische Versandapotheken mit EU-Recht nicht abschließend beantwortet werde könne, hätte das OLG kein Teilurteil erlassen dürfen, so der BGH. Also geht die Sache zurück nach Köln – und mit großer Wahrscheinlichkeit auch nach Luxemburg.
Aus Sicht des BGH kann – auch nach dem EuGH-Urteil – nicht abschließend beurteilt werden, ob die deutsche Rx-Festpreisbindung mit EU-Recht vereinbar ist. Das hängt aus Sicht der Richter damit zusammen, dass die Entscheidung zu den Rx-Boni von DocMorris „maßgeblich auf ungenügenden Feststellungen“ beruhte. Aus Sicht des BGH konnte der EuGH nicht alle Hintergründe kennen – weil das OLG Düsseldorf im damaligen Vorlageverfahren sie nicht mit geliefert hatte.
Laut BGH hatte das OLG in seinem Vorabentscheidungsersuchen zwar die Frage gestellt, inwiefern sich die Preisbindung mit der gleichmäßigen und flächendeckenden Arzneimittelversorgung rechtfertigen lässt – dazu aber keine Feststellungen getroffen. Der EuGH wiederum habe angenommen, dass das nationale Gericht die von dem betroffenen Mitgliedstaat vorgelegten Beweise prüfen müsse. Aber in dem Verfahren sei die Bundesrepublik gar keine Partei gewesen.
Mit anderen Worten: Bereits das OLG hätte aus Sicht des BGH die Informationen aufarbeiten und dem EuGH zur Verfügung stellen müssen. So hätten die Richter in Luxemburg nur „zusammengefasst und angenommen, die nationalen Regelung sei nicht in einer Weise untermauert, die den Anforderungen der Rechtsprechung des Gerichtshofs genüge“.
„Damit beruht die fragliche Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union maßgeblich auf ungenügenden Feststellungen in jenem Verfahren“, so der BGH. „Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass diese Feststellungen nachgeholt werden können, müssen die Parteien im vorliegenden Verfahren Gelegenheit erhalten, zur Geeignetheit der deutschen Regelung der arzneimittelrechtlichen Preisbindung für eine flächendeckende und gleichmäßige Arzneimittelversorgung vorzutragen. Sollte dies in schlüssiger Weise geschehen, wird das Berufungsgericht die erforderlichen Feststellungen zu treffen haben, ohne die sich die Geeignetheit der deutschen Regelung für das erstrebte Ziel nicht abschließend beurteilen lässt.“
Der BGH gibt auch eine „Segelanweisung“ für die Kollegen in Köln mit: Zu berücksichtigen sei, dass die Mitgliedstaaten die Verantwortung für die Festlegung ihrer Gesundheitspolitik sowie die Organisation des Gesundheitswesens hätten und selbst bestimmen könnten, auf welchem Niveau sie den Schutz der Gesundheit gewährleisten wollten und wie dies erreicht werden solle. Dabei komme ihnen ein Wertungsspielraum zu. Diese Aufgabenverteilung sei von allen Organen der Union zu respektieren, mahnt der BGH. „Dabei ist darauf hinzuweisen, dass diese Zuständigkeit der Mitgliedstaaten von der Union nicht nur formal, sondern auch im Geist einer loyalen Zusammenarbeit zu beachten ist.“
Die Richter legen ihren Kollegen nahe, gemäß Zivilprozessordnung (ZPO) „im Rahmen des weiteren Verfahrens zur Frage der Notwendigkeit von einheitlichen Apothekenabgabepreisen für verschreibungspflichtige Arzneimittel für die Wahrung der Belange der Gesundheit der Bevölkerung eine amtliche Auskunft staatlicher Stellen, insbesondere der Bundesregierung, einzuholen“. Dabei dürfe die Beweislast nicht soweit gehen, dass von vornherein her keine andere Maßnahme mehr zulässig sei.
Mit einer solchen Entscheidung war nicht zu rechnen. Dr. Morton Douglas, Anwalt der AKNR, räumt ein, dass er nach der mündlichen Verhandlung nicht davon ausgegangen sei, dass der BGH den Apotheken hier vielleicht eine zweite Chance einräumen würde. Zusammen mit der Kammer will er nun nicht nur das BGH-Urteil analysieren, sondern auch alle im DocMorris-Verfahren ausgetauschten Argumente.
Er hofft, dass sich alle Beteiligten an einen Tisch setzen, um die bestmögliche Strategie zu finden. Nur wenn sich die Richter in Köln überzeugen lassen, dass sich ein erneutes Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH rechtfertigen lässt, bekommen die Apotheker eine zweite Chance. Wie groß die Erfolgsaussichten sind, darüber will Douglas nicht spekulieren. „Jetzt gibt es wenigstens wieder einen Hoffnungsstreif am Horizont.“ Er verweist auf die früheren Entscheidungen des EuGH zum Fremdbesitzverbot und zur Bedarfsplanung, in denen die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten respektiert und den Mitgliedsstaaten ein deutlich weiterer Beurteilungsspielraum eingeräumt wurde.
Der Anwalt hofft, dass auch die Politik nach der festgefahrenen Debatte um das Rx-Versandverbot diese Gelegenheit erkennt, die Kompetenzüberschreitung des EuGH zu korrigieren. Eine dritte Chance werde es sicher nicht geben.
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