Die EU-Kommission will den Patentschutz für in der Europäischen Union entwickelte und produzierte Arzneimittel lockern. Damit sollen sich die wirtschaftlichen Chancen für in der EU ansässige Generikahersteller im Exportgeschäft ins EU-Ausland verbessern. Geplant ist dazu eine gezielte Anpassung für Vorschriften zum geistigen Eigentum, in dem die sogenannten „ergänzenden Schutzzertifikate“ (SPC) für Exportaktivitäten geöffnet werden.
Ergänzende Schutzzertifikate (SPC) sind ein geistiges Eigentumsrecht und wurden 1992 in der EU als Erweiterung eines Patentrechts eingeführt. Mit den pharmazeutischen SPC soll das Wegfallen des wirksamen Patentschutzes für Arzneimittel ausgeglichen werden, das durch verpflichtende und langwierige Testreihen und klinische Versuche bedingt ist, die wiederum eine Voraussetzung für eine behördliche Zulassung darstellen. Durch ein SPC kann ein Patent um maximal fünf Jahre verlängert werden. Die Kommission schlägt eine gezielte Änderung vor, mit der das derzeitige System verbessert und zugleich ein erheblicher Wettbewerbsnachteil beseitigt wird: die „Ausnahmeregelung bei Exportproduktion“ für ergänzende Schutzzertifikate.
Dank der vorgeschlagenen Ausnahmeregelung wären Unternehmen mit Sitz in der EU während der Geltungsdauer des Zertifikats künftig berechtigt, eine generische oder bioähnliche Version eines SPC-geschützten Arzneimittels herzustellen. Dies gilt aber nur, wenn die Produktion für die Ausfuhr in ein Land außerhalb der EU geschieht, in dem der Patentschutz abgelaufen ist oder nie existiert hat. Durch die Ausnahmeregelung werde Europas Vorreiterrolle bei der pharmazeutischen Forschung und Entwicklung unterstützt.
Elżbieta Bieńkowska, Kommissarin für Binnenmarkt, Industrie, Unternehmertum und KMU, sagte: „Der vorgelegte Vorschlag schafft einen Ausgleich: Einerseits muss Europa für innovative Arzneimittelhersteller unbedingt attraktiv bleiben, andererseits müssen Generika und bioähnliche Produkte aus der EU auf den Weltmärkten konkurrieren können. Dieser Vorschlag wird zu Wachstum und hochqualifizierten Arbeitsplätze in der EU beitragen. Er könnte einen zusätzlichen Nettoumsatz von 1 Milliarde Euro pro Jahr generieren und bis zu 25.000 neue Arbeitsplätze innerhalb von zehn Jahren entstehen lassen. Das wird insbesondere den vielen, in diesem Bereich tätigen kleinen und mittleren Unternehmen zugutekommen. Mittelfristig wird mehr Wettbewerb zu einer größeren Auswahl an Arzneimitteln für die Patienten und zu einer Entlastung der öffentlichen Haushalte führen.“ Nach Annahme des Vorschlags durch das Europäische Parlament und den Rat wird die Verordnung in allen EU-Mitgliedstaaten unmittelbar gelten.
Laut EU-Kommission durchlaufen die europäischen und globalen Arzneimittelmärkte derzeit tief greifende Veränderungen. Die weltweite Nachfrage nach Arzneimitteln habe massiv zugenommen und belief sich im Jahr 2017 auf über eine Billion Euro. Parallel dazu sei eine Verschiebung bei den Marktanteilen zugunsten von Generika und bioähnlichen Produkten festzustellen. Traditionell spiele die EU eine Vorreiterrolle bei der pharmazeutischen Forschung und Entwicklung, unter anderem auch im Bereich Generika und bioähnliche Produkte. Aber diese führende Position sieht die Kommission ohne die Anpassung bedroht.
Die bisherige Regelung benachteiligt laut EU-Kommission die heimischen Hersteller. Solange das Produkt in der EU durch das SPC geschützt sei, könnten nämlich in der EU niedergelassene Hersteller von generischen und/oder bioähnlichen Produkten nicht für jeden Zweck produzieren, auch nicht für die Ausfuhr in Länder außerhalb der EU, in denen der SPC-Schutz abgelaufen sei oder nicht existiere. Hersteller mit Sitz in diesen Nicht-EU-Ländern dagegen schon. Dieser erhebliche Wettbewerbsnachteil berge die Gefahr, dass die Herstellung verlagert und Investitionen in Europa verloren gingen.. Außerdem erschwere das Zertifikat den Herstellern in der EU, unmittelbar nach seinem Ablauf auf dem EU-Markt Fuß zu fassen: Sie seien nämlich nicht in der Lage, Produktionskapazitäten aufzubauen, bis der durch das Zertifikat gebotene Schutz abgelaufen sei.
Ab 2020 würden viele SPC keinen Schutz mehr bieten, da eine erhebliche Anzahl von Arzneimitteln mit dem Auslaufen der Patente oder SPC-Klauseln öffentlich verfügbar werde, so die Kommission. Durch diese Entwicklung würden enorme neue Marktchancen – insbesondere für Generika und bioähnliche Produkte – eröffnet. Die bestehenden Rechtsvorschriften müssten daher „dringend an diese Gegebenheiten angepasst werden“. Die ständig wachsenden Märkte für Generika und bioähnliche Produkte seien äußerst wettbewerbsorientiert und Entscheidungen über Produktionsstandorte werden mit langer Vorlaufzeit getroffen.
Auf ein unterschiedliches Echo stößt der Vorschlag der Kommission bei den Herstellerverbänden: Pro Generika sieht darin ein positives Signal: „Das ist ein erstes, wichtiges und vor allem überfälliges Signal“, so Bork Bretthauer, Geschäftsführer von Pro Generika. „Das kann dazu führen, dass der Produktionsstandort Deutschland gestärkt wird und mehr Generika nach deutschen Sozial- und Umweltstandards produziert werden. Allerdings sei die EU-Kommission bislang nur einen halben Schritt gegangen. Denn um die Versorgungssicherheit zu stärken, müsse es Generika- und Biosimilarunternehmen natürlich vor allem ermöglicht werden, auch diejenigen Medikamente hierzulande herzustellen, die am Tag nach Ablauf aller Schutzrechte für die Versorgung in Deutschland benötigt würden.
Anderenfalls würde ein nahezu absurder Zustand geschaffen: In Deutschland dürften dann zwar Arzneimittel hergestellt werden, die in den Export gingen. Arzneimittel aber, die nach Ablauf aller Schutzfristen in deutschen Apotheken abgegeben werden, müssten weiterhin im Ausland hergestellt werden. „Das kann ernsthaft keiner wollen. Daher erwarten wir, dass die Bundesregierung auch diesen Vorschlag unterstützt“, so Bretthauer.
„Tief besorgt“ zeigt sich hingegen der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (vfa). Damit sende die EU-Kommission ein Signal an die forschenden und entwickelnden Arzneimittelhersteller, dass ihre Investitionen in neue Arzneien nicht mehr sicher seien. Dieser Vorschlag gefährde die führende Rolle Europas bei der Entwicklung pharmazeutischer Innovationen.
Zum Problem der vorgeschlagenen Lockerung könnten auch Reimporte werden. Zwar müssen nur für den Export produzierte Generika entsprechend gekennzeichnet werden. Trotzdem bleiben Fragen: Parallelimporte sind nur möglich, wenn die betreffenden Produkte in Deutschland oder einem anderen EU-Land bereits vermarktungsfähig sind, „dass heißt die Produkte müssen zugelassen sein und dürfen keine Patent-(SPC-)Rechte anderer verletzten“, so der vfa. „Die von der Kommission vorgeschlagene - und von uns kritisierte - Änderung will dieses Prinzip nicht antasten: Vorzeitig produzierte Chargen dürfen bis zum tatsächlichen Patentablauf auch weiterhin nicht auf den europäischen Markt gelangen. Sollte dies dennoch geschehen, können bisherige Patentinhaber dies vor Gerichten geltend machen“, so vfa-Sprecher Jochen Stemmler.
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