EU-Kartellverfahren eröffnet: Amazon im Kreuzfeuer Tobias Lau, 13.11.2020 08:04 Uhr
Für Amazon wird es langsam etwas ungemütlicher: Der Versandhandelsgigant sieht sich in den vergangenen Wochen wachsendem politischen Widerstand ausgesetzt. In den USA verdichten sich die Pläne des Kongresses, Amazon, Google und andere Tech-Riesen zu fairem Wettbewerb zu zwingen oder in letzter Konsequenz gar zu zerschlagen. Und nun schafft die Politik im größten Binnenmarkt der Welt erste Fakten: Die EU-Kommission ist zu der vorläufigen Auffassung gelangt, dass Amazon mit seinem Gebaren das Wettbewerbsrecht verletzt – und leitet derzeit gleich zwei Kartellrechtsverfahren ein.
Eigentlich ist das Jahr für Amazon-Gründer Jeff Bezos derart gut gelaufen, dass es sich ein Normalbürger kaum vorstellen kann: Das Vermögen des mit weitem Abstand reichsten Menschen der Welt hat sich seit Beginn der Covid-19-Pandemie fast verdoppelt und liegt nun laut Forbes bei über 200 Milliarden US-Dollar. Das entspricht dem nominalen Bruttosozialprodukt Griechenlands. Als sich seine Frau im vergangenen Jahr von ihm scheiden ließ, erhielt sie vier Prozent der Amazon-Aktien. En passant wurde sie durch deren Wertsteigerung zur reichsten Frau der Welt: 70 Milliarden Dollar schwer ist sie mittlerweile.
Bezos‘ Reichtum spiegelt dabei nur in Ansätzen die Marktmacht seines Konzerns. Geht es nach ihm, soll sich Amazon nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen, sondern weitere Sektoren erobern. Seit mittlerweile mehr als drei Jahren arbeitet der Konzern unter dem Projektnamen „1492“ – in Anlehnung an die Entdeckung der vermeintlich „Neuen Welt“ – klandestin daran, das Gesundheitswesen erst in den USA, später dann auch in anderen Märkten, umzukrempeln. Doch ganz so ungehindert wie bisher dürfte das nicht mehr laufen, denn sowohl diesseits als auch jenseits des großen Teichs wächst der Widerstand, und zwar in den vergangenen Wochen schneller als zuvor: Fast parallel gehen der US-Kongress und die EU-Kommission nun Schritte, um die Marktmacht des Giganten zu brechen.
Im Oktober legte der Wettbewerbs-Unterausschuss des US-Repräsentantenhauses nach einer einjährigen Untersuchung einen über 400 Seiten langen Bericht vor, der zu dem klaren Ergebnis kommt, dass die Tech-Giganten Amazon, Google, Facebook und Apple ihre Marktmacht missbrauchen: „Vereinfacht gesagt, sind Unternehmen, die einst als ruppige Außenseiter-Start-ups den Status Quo infrage gestellt haben, heute zu Monopolisten geworden, wie wir sie zuletzt in der Ära der Ölbarone und Eisenbahnmagnaten gesehen haben“, heißt es in dem Report. Diese Macht sei zu groß und müsse einer angemessenen Aufsicht unterstellt, zur Not auch durch Zerschlagung gebrochen werden. Der Ausschuss unter Führung der Demokraten schlägt deshalb Gesetzesänderungen vor, die sich unter anderem an der Gesetzgebung nach der Großen Depression orientieren: Mit dem Glass-Steagall-Act wurde damals die Trennung des Kreditgeschäfts mit Privatkunden vom Investmentbanking festgeschrieben. Parallel dazu könne Amazon gezwungen werden, sein eigenes Handels- vom Marktplatzgeschäft zu trennen.
Damit könnten sich die Demokraten durchsetzen, denn auch die Republikaner, die einen eigenen Report zur Marktmacht der Internetgiganten vorgelegt haben, stimmen in die Kritik ein. „Es widerspricht fundamental einem fairen Wettbewerb, gleichzeitig der einzige beherrschende Marktplatzbetreiber zu sein und die von diesem Marktplatz erhaltenen Daten zu nutzen, um eigene Produkte auf den Markt zu bringen und Konkurrenzprodukte selbst zu verkaufen“, zitieren US-Medien den republikanischen Abgeordneten Ken Buck, der wiederum einen dritten Bericht verfasst hat, der einen Kompromiss zwischen den beiden vorherigen bilden soll. Denn die Republikaner lehnen ein Gesetz nach Vorbild des Glass-Steagall-Acts bisher ab. Die Demokraten wiederum bringen in ihrem Bericht den Vorschlag auf den Tisch, durch Gesetzesänderung künftig die Möglichkeiten zu Übernahmen und Fusionen zu beschneiden. Dass mit Joe Biden nun einer der ihren zum Präsidenten gewählt wurde, dürfte ihre Aussichten sich dennoch erfolgreich zu sein, erheblich verbessern. Medienberichten zufolge wurde Biden bereits zum Thema gebrieft.
Noch bevor sich in den USA etwas tut, muss sich Amazon aber in Europa verantworten. Bereits im September hatte EU-Binnemarktkommissar Thierry Breton angekündigt, bis Endes des Jahres in den geplanten Digital Services Act Regularien aufzunehmen, die die Dominanz der Internetriesen brechen soll. Dem kommt nun ein anderes Verfahren zuvor: „Die Europäische Kommission hat Amazon von ihrer vorläufigen Auffassung in Kenntnis gesetzt, dass das Unternehmen durch Verfälschung des Wettbewerbs auf Online-Einzelhandelsmärkten gegen die EU-Kartellvorschriften verstößt“, teilte die Kommission am Dienstag mit. Sie wirft Amazon ebenso wie die US-Politiker vor, der Konzern nutze nicht-öffentliche Geschäftsdaten von unabhängigen Händlern, die über den Amazon-Marktplatz verkaufen, systematisch für das eigene Einzelhandelsgeschäft, das in unmittelbarem Wettbewerb mit diesen Händlern steht. „Wir müssen verhindern, dass Plattformen mit Marktmacht, die auch selbst über die Plattform verkaufen, wie etwa Amazon, den Wettbewerb verzerren", erklärt EU-Wettbewerbskommissarin Margarete Vestager dazu. „Der elektronische Handel boomt und Amazon ist die führende Plattform in diesem Bereich. Deshalb ist ein fairer Zugang zu Online-Kunden ohne Verzerrung des Wettbewerbs für alle Verbraucher wichtig.“
Und nicht nur das: Die Kommission hat darüber hinaus noch ein zweites förmliches Kartellverfahren eingeleitet, um zu prüfen, ob Amazon eigene Angebote und Angebote von Verkäufern, die die Logistik- und Versanddienste von Amazon nutzen, bevorzugt behandelt. Die Wettbewerbswächter sollen dabei insbesondere prüfen, ob die Kriterien, nach denen Amazon das Einkaufswagen-Feld vergibt und es Verkäufern ermöglicht, Prime-Kunden zu beliefern, zu einer Vorzugsbehandlung der Angebote von Amazon oder der Angebote von Verkäufern führen, die die Logistik- und Versanddienste von Amazon nutzen. Sollten sich die Vorwürfe bewahrheiten, droht Amazon ein Verfahren wegen Verletzung von Artikel 102 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und damit eine Strafe von bis zu 10 Prozent des jährlichen weltweiten Umsatzes. 2019 betrug der 280 Milliarden US-Dollar. Doch das war bekanntlich vor der Covid-19-Pandemie. 2020 strebt Amazon einen Umsatz zwischen 112 und 121 Milliarden Dollar an – allein im vierten Quartal.