Die jahrelange Dominanz der britischen Arzneimittelbehörde MHRA könnte durch den Brexit schwere Folgen für die Arzneimittelversorgung haben: Die europäische Arzneimittelagentur EMA ist „ernsthaft besorgt“, dass mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU mehr als 100 Medikamente ihre Zulassung verlieren könnten. Sie appelliert deshalb an die Hersteller, endlich zu handeln, und kündigt an, die notwendigen Prozesse genau zu überwachen. Auch der Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH) fordert von den Unternehmen, den Druck zu erhöhen, um Engpässe zu vermeiden.
Bei den Arzneimittelherstellern gebe es „Lücken bei der Bereitschaft für den Brexit“, warnt die EMA. 694 zentral zugelassene Produkte gebe es, bei denen mindestens ein unverzichtbarer Bestandteil im Vereinigten Königreich zu verorten ist. Dabei handelt es sich größtenteils um Produkte von Herstellern mit Hauptsitz in Großbritannien oder solchen, die beispielsweise Produktionsstätten oder Qualitätskontrollen auf der Insel haben. Werden deren Zulassungen oder zu benennende Funktionen nicht fristgerecht übertragen, erlischt ihre Gültigkeit mit dem Austritt Großbritanniens aus dem europäischen Binnenmarkt.
Laut eigenen Angaben haben EMA und Europäische Kommission deshalb seit Mai 2017 die Unternehmen „informiert und das Bewusstsein für die Notwendigkeit geschaffen, die nötigen Maßnahmen in Gang zu setzen“. So müssen beispielsweise Zulassungen auf Arzneimittelbehörden über tragen werden, die innerhalb der EU ansässig sind oder Pharmakovigilanzbeauftragte in das EU-Gebiet umgesiedelt und dort angemeldet werden. Die Behörde habe seitdem regelmäßig Informationen über rechtliche Fragen sowie Leitfäden zu praktischen und vereinfachten Voraussetzungen für die Unternehmen veröffentlicht und aktualisiert.
Dennoch: Nur 58 Prozent der Unternehmen, die auf diese Weise vom Brexit betroffen sind, liegen laut einer aktuellen EMA-Erhebung im Zeitplan. Bei 108 Wirkstoffen – 88 Human- und 20 Tierarzneimitteln – gebe es „ernsthafte Bedenken, dass die notwendigen Schritte innerhalb der nötigen Fristen eingeleitet werden“. Bei 10 Prozent der betroffenen Produkte habe die europäische Behörde von den Herstellern nicht einmal eine Rückmeldung bekommen.
Die EMA hat die Untersuchungsergebnisse nun als Weckruf an die Unternehmen weitergeleitet. Diejenigen, von denen sie in der Erhebung keine Antwort erhalten hat, wolle sie nun direkt auf die Probleme ansprechen, um zum Wohle der Versorgungssicherheit notwendige Schritte mit ihnen zu diskutieren. Außerdem sollen die notwendigen bürokratischen Prozesse bei den 694 betroffenen Produkten von nun an einem regelmäßigen Monitoring unterzogen werden, so die Behörde.
Ob und wie umfangreich einzelne Hersteller handeln, bleibt der Öffentlichkeit bisher meist verborgen. Man hüllt sich in Schweigen oder demonstriert Zweckoptimismus. GlaxoSmithKline, größten Pharmakonzern mit Sitz in Großbritannien, rechnet nach eigenen Angaben damit, allein in den nächsten zwei bis drei Jahren bis zu 70 Millionen Pfund (80 Millionen Euro) zusätzlich für neue Zulassungsverfahren, die Übertragung von Vermarktungs- und Produktionslizenzen und ähnliche durch den Brexit notwendige Schritte auszugeben.
Von US-Konzern Merck wurde im Juni bekannt, wie er sich auf die bevorstehenden Veränderungen vorbereiten will, weil ein mit den Planungen vertrauter Mitarbeiter der Wirtschaftsnachrichtenagentur Bloomberg anonym davon berichtet hatte. Unter anderem erwägt das Unternehmen, eigens eine neue Abteilung mit 30 Rechts- und Handelsexperten einzurichten, die entstehende juristische und regulatorische Problemstellungen lösen sollen.
Auch bei der deutschen Interessenvertretung der Pharmaindustrie steigt deshalb die Nervosität. BAH-Geschäftsführer Dr. Elmar Kroth mahnt die Hersteller zur Eile. Bis zum 30. März müssen alle Zulassungen, die jetzt stellvertretend für die gesamte EU bei der britischen Arzneimittelbehörde liegen, auf eine Behörde innerhalb der verbleibenden Union umgemeldet werden. „Das heißt, wir haben nur noch neun Monate“, so Kroth gegenüber der Tageszeitung „Die Welt“. „Bisher haben aber gerade mal 470 Verfahren gewechselt, das heißt, bis jetzt sind erst 15 Prozent der Arbeit erledigt, und wir haben noch 85 Prozent der Arbeit vor uns.“
Verbände und Behörden scheinen allerlei Grund zu haben, Druck zu machen. Denn im vergangenen Jahr waren es nur wenige Zulassungen, die von der britischen auf eine andere Behörde innerhalb der EU umgeschrieben wurden. Pro Monat lag ihre Zahl meist im einstelligen Bereich. Erst seit dem Frühjahr steigt ihre Zahl rasant: Im April waren es 133, im Mai 123 Zulassungen, die in einen der 27 übrigen EU-Staaten wechselten.
Insgesamt gibt es rund 14.000 dezentral zugelassene Arzneimittel, deren Unterlagen in einem EU-Mitgliedsland stellvertretend für die gesamte Union hinterlegt sind. Von denen seien 23 Prozent betroffen, also 3216 Medikamente. Die Zahl der betroffenen Produkte ist indes noch höher, da eine Zulassung oft für mehrere Ausführungen, beispielsweise Packungsgrößen gilt. Rund 6000 Produkte könnten es sein, die nach dem Brexit nicht mehr verkauft werden dürfen, schätzt Kroth.
Dabei könnte vor allem auf das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) viel Arbeit zukommen, denn zu keiner anderen nationalen Behörde werden mehr Zulassung transferiert: 178 waren es bis Juni, 38 Prozent aller gewechselten Zulassungen. Gemeinsam mit den 44 Zulassungen, die beim österreichischen Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) landeten, müssen sich deutschsprachige Behörden laut der Tageszeitung um fast die Hälfte aller Zulassungswechsel kümmern.
Dass es so viele sind, liegt laut Kroth am guten Ruf: „Die deutschen Behörden sind zuverlässig, in der Regel gesprächsbereit und die Verfahren laufen relativ schnell.“ Außerdem verfüge das BfArM als größte Zulassungsbehörde in der EU über die entsprechende Erfahrung. Das BfArM selbst äußert sich auf Nachfrage nicht dazu, welche Wirkstoffe und Produkte von den – eventuell ausbleibenden – Zulassungswechseln betroffen sein könnten, und verweist darauf, dass es sich um laufende Verfahren handelt.
BfArM-Präsident Professor Dr. Karl Broich stimmt jedoch in die Mahngesänge des des BAH ein: „Die pharmazeutische Industrie muss dringend ihre Hausaufgaben machen“, so Broich. „Die Unternehmen sollten nicht darauf setzen, dass es nach dem Austrittstermin Übergangsfristen gibt, sondern jetzt handeln.“
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