Eigentlich wollte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens auf den Wettbewerb setzen. Bei der für 2021 geplanten Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) sollen die Patienten aber kein Wahlrecht erhalten. Stattdessen sollen sie zum Start die ePA ihrer Krankenkassen nutzen. Damit haben Anbieter außerhalb des Kassenlagers so gut wie keine Marktchancen. Dagegen regt sich Widerstand.
„Der Entwurf des TSVG enthält unter anderem Regelungen, die die gesetzlichen Krankenkassen verpflichten, ihren Versicherten ab 2021 elektronische Patientenakten anzubieten. Es ist derzeit vorgesehen, dass die Versicherten die ihnen von ihrer Krankenkasse zur Verfügung gestellte elektronische Patientenakte nutzen“, teilt das Bundesgesundheitsministerium auf Nachfrage mit. Die Bedingungen zur Einführung der ePA sollen am 14. März mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) beschlossen werden. Daher ist Eile geboten.
„Die Krankenkassen sind verpflichtet, ihren Versicherten spätestens ab dem 1. Januar 2021 eine von der Gesellschaft für Telematik nach § 291b Absatz 1a Satz 1 zugelassene elektronische Patientenakte zur Verfügung zu stellen“, heißt es im TSVG. Mehr noch: Die inhaltliche Hoheit erhalten die Kassenärzte. Die Entscheidungen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) seien verbindlich, schrieben Union und SPD im Änderungsantrag. Sie können allerdings „durch eine alternative Entscheidung der in der Gesellschaft für Telematik vertretenen Spitzenorganisationen der Leistungserbringer in gleicher Sache ersetzt werden“, heißt es weiter.
Für ihre Entscheidungen muss sich die KBV allerdings mit den anderen Gematik-Gesellschaftern absprechen – „ins Benehmen setzen“, wie es im Änderungsantrag heißt. Dort hat demnächst das BMG das Sagen. Die Verfahrensordnung dafür soll die KBV vier Wochen nach Inkrafttreten des Gesetzes erstellen. Danach hat die KBV vier weitere Wochen Zeit, sich mit den Gematik-Gesellschaftern zu einigen.
Schafft es eine Kasse bis 2021 nicht, ihren Versicherten eine ePA zur Verfügung zu stellen, wird ihr die Zuweisung aus dem Gesundheitsfonds um 2,5 Prozent gekürzt. Die Sanktion steigt auf 7,5 Prozent, wenn sie ihrer Verpflichtung bis 2022 nicht nachkommt. Das sieht ein weiterer Änderungsantrag vor. Nicht vorgesehen ist offenbar, dass Patienten solcher Kassen auf eine ePA einer anderen Kassen zugreifen können. Wollen Patienten eine andere ePA nutzen, müssen sie die Kassen wechseln.
Das lässt aufhorchen: In der Digitalisierungsbranche des Gesundheitswesens macht sich seit einiger Zeit der Eindruck breit, dass die Krankenkassen die Einführung der ePA nutzen, ihre Vormachtstellung zu behaupten und auszubauen. „Das muss wirklich dringend besprochen werden. Wenn ich die beste App für das Medikamentenmanagement für mich und meine Familie gefunden habe und diese App nicht mit der Akte meiner Kasse funktioniert – muss ich dann die Kasse wechseln oder auf die beste App verzichten? Das kann ja nicht sein. Daher ist es richtig, die freie Wahl der elektronischen Patientenakte zu verlangen. Da ist ganz offensichtlich dringender Änderungsbedarf im aktuellen Entwurf des TSVG“, kritisiert Michael Franz, Kommunikationschef des IT-Konzerns Compugroup Medical (CGM).
Und was geschieht beim Kassen- und ePA-Wechsel mit den dort von den Patienten freiwillig gespeicherten Gesundheitsdaten? Beispielsweise kann eine ePA für bestimmte Chroniker eine „Kopfschmerztagebuch“ anbieten, eine andere nicht. Gehen diese Daten beim Kassenwechsel verloren?
Gegen den Ausschluss der ePA-Wahlfreiheit regt sich nicht nur in der IT-Szene Widerstand: Die Grünen verlangen bei der ebenfalls ein Wahlrecht für die Versicherten. Das heißt: TK-Versicherte sollen nicht automatisch die derzeit von der TK mit IBM entwickelte Akte erhalten, sondern sich auch für einen anderen Anbieter entscheiden können. Das Gleiche gilt für die DAK, die beim Thema Digitalisierung mit dem Anbieter Vivy zusammenarbeitet. Auch das AOK-Lager hat einen eigenes ePA-Angebot am Start und mit Christian Klose von der AOK Nordost einen IT-Experten aus dem Kassenlager als stellvertretenden Leiter der vor einem Jahr neu geschaffenen Digitalisierungsabteilung ins BMG entsandt.
„Wir setzen uns dafür ein, die Digitalisierung des Gesundheitswesens in die Hand der Patientinnen und Patienten zu legen. Dazu gehört auch, dass Patientinnen und Patienten freie Entscheidungen bei Angeboten zur elektronischen Patientenakte treffen können und nicht nur daran gebunden sind, was ihre Krankenkasse ihnen anbietet. Insbesondere Selbsthilfegruppen oder Verbraucherorganisationen können ihren Mitgliedern mit eigenen Angeboten wie zum Beispiel einem spezifischen Frontend oder geeigneten Apps für die Akte einen großen Zusatznutzen verschaffen. Voraussetzung dafür ist selbstverständlich, dass sich auch diese Anwendungen an die Vorgaben der Gematik halten müssen und durch die Gematik zugelassen werden. Technisch muss der Transfer zwischen verschiedenen Anwendungen ohnehin möglich sein, beispielsweise im Falle eines Wechsels der Krankenkasse", sagte die Gesundheitsexpertin der Grünen Maria Klein-Schmeink gegenüber APOTHEKE ADHOC.
Der Bundesverband Gesundheits-IT (bvitg) sieht in dem „Kassen-Monopol“ einen Verstoß gegen das Prinzip der freien Marktwirtschaft. Ein fairer Wettbewerb der Anbieter von Patientenakten untereinander würde so verhindert. „Neben den Projekten einzelner Krankenkassen bietet der Markt bereits etliche Akten. Diese werden von Softwareherstellern angeboten, die teilweise in Zusammenarbeit mit Krankenkassen oder ohne eine solche Kooperation funktionieren“, so Sebastian Zilch, Geschäftsführer vom bvitg, gegenüber dem Handelsblatt: „Anstatt diese bestehenden Projekte und damit zahlreiche Innovationen im Keim zu ersticken, sollte der Gesetzgeber entsprechende Voraussetzungen für innovative und faire Marktbedingungen schaffen und garantieren.“
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