Engpässe: Apotheken sollen Nachfrage steuern Patrick Hollstein, 20.04.2023 15:27 Uhr
500 Lieferengpässe – bei 100.000 in Deutschland gelisteten Arzneimitteln. Man müsse die Sache auch einmal in Relation sehen, findet Paula Piechotta, Gesundheitsexpertin der Grünen. Bei einer Diskussionsveranstaltung von Pro Generika machte sie der Branche jedenfalls wenig Hoffnung, dass man die Daumenschrauben noch viel weiter lockern wird. Allenfalls könne man über eine Umschichtung von Budgets sprechen.
Laut Piechotta waren die jüngsten Engpässe bei Fiebersäften und Antibiotika auch einer Nachfragespitze als Folge der Erkältungs- und Infektionswelle geschuldet. Solche Effekte ließen sich auch mit großzügigen politischen Maßnahmen nicht vermeiden – ohnehin gehe es beim Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG) aber nicht darum, den Preisdruck abzuschaffen, sondern das Risiko für Ausfälle zu minimieren. „Derisking“ sei das Motto, so die hauptberufliche Fachärztin für Radiologie.
Andreas Burkhardt, Deutschlandchef von Ratiopharm und Vorstandschef von Pro Generika, hielt dagegen: Bei Tamoxifen habe es ja nun keine Nachfragespitze gegeben, trotzdem sei es zu massiven Engpässen gekommen. Und auch bei Kinderarzneimitteln, für die es ja derzeit eine Entlastung gebe, sei man aufgrund der Kostensteigerungen gerade noch kostendeckend. „Wir steigen nicht aus, wenn es einen Ansturm auf Fiebersäfte gibt, das ist eine Frage des Anstands“, sagte er. Aber wenn dann an allen Ecken und Ende dieselben Probleme auftreten und die Mischkalkulation wegfällt, überlege man sich als Hersteller, ob man langfristig nicht doch den Stecker ziehe. Jedenfalls dürfe man nicht damit rechnen, dass neue Hersteller einsteigen, wenn sie gerade so mit einer schwarzen Null rechnen könnten – und auch dies nur für den Zeitraum von zwei Jahren, von denen neun Monate im Durchschnitt für die Vorbereitungen draufgingen.
„Unternehmerische Freiheit“
Davon wollte Piechotta so gar nichts wissen. Dass die Produkte unattraktiv seien, glaube sie nicht, gab sie offen zu Protokoll. Und überhaupt habe man als Politik nicht das Ziel, den Firmen unter die Arme zu greifen. Risiken wie Kostensteigerungen gehörten zur unternehmerischen Freiheit.
Nun war es Dr. Georg Kippels (CDU), dem der Kragen platzte. Die Marktmechanismen funktionierten im Gesundheitswesen nun einmal nicht. Wenn man keine Möglichkeit habe, seine Preise anzupassen oder Produkte an einen anderen Kunden zu verkaufen, sei der Ausstieg die einzige unternehmerische Freiheit, die man noch habe. Genau das wolle man aber nicht, denn solche Entscheidungen hätten zu der aktuellen Situation geführt. Es gehe nicht darum, den Herstellern unter die Arme zu greifen, sondern die Gesetze an die Marktgegebenheiten anzupassen.
Auch die Schilderung von Lothar Guske (Aristo), Ingrid Blumenthal (Aliud) und Josip Mestrovic (Zentiva) beeindruckten Piechotta nicht. Als Haushaltspolitikerin könne sie sagen, dass kein Puffer für die Pharmaindustrie zur Verfügung stehe und dass man ja auch die Lohnnebenkosten im Auge habe, um die Konjunktur nicht zu gefährden. Nur Maßnahmen, die solide gegenfinanziert seien, kämen überhaupt in Betracht. Auf Steuermittel brauche man nicht zu hoffen, allenfalls eine Umschichtung sei denkbar. Pro Generika könne ja mal mit dem Verband der forschenden Pharmaunternehmen (VfA) sprechen.
„Deutliche Zugeständnisse“
Auch die Vertragspartner seien gefragt; laut Piechotta haben die Krankenkassen vor Weihnachten „deutliche Zugeständnisse“ gemacht. Offenbar hatten sie die Ankündigungen beeindruckt, die Aufzahlungen bei einigen Kinderarzneimitteln zu übernehmen. Hoffnungen setzt sie übrigens auch noch in das Maßnahmenpaket, dass die EU in Kürze vorstellen will.
Zwar werde das Gesetz noch verändert; in welche Richtung es gehen könnte, verriet Piechotta aber nicht: Sie wolle dem parlamentarischen Verfahren nicht vorgreifen. Eine Idee warf sie dann aber doch in den Raum: Man könnte Ärzte und Apotheken stärker in die Verantwortung nehmen, „steuernd in die Nachfrage einzugreifen“. Details dazu nannte sie nicht.
Um den Abend doch noch mit etwas Konstruktivem zu beenden, präsentierte Burkhardt einen Vorschlag, mit dem Pro Generika in die Debatte im Bundestag gehen will: Sobald ein Wirkstoff nur noch von fünf Herstellern angeboten wird – und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern mit mindestens 5 Prozent Marktanteil – soll ein Automatismus in Kraft treten: Zunächst soll der Beirat die Versorgungslage prüfen, kommt von den Expertinnen und Experten kein Veto, sollen Festbeträge und Rabattverträge für fünf Jahre außer Kraft gesetzt werden. Der Preis soll dann mindestens 50 Prozent über Preismoratorium liegen, damit die Anpassungen nicht durch diese Maßnahme aufgefressen werden.
Die beiden Kassenverteter im Publikum, Johannes Bauernfeind von der AOK Baden-Württemberg, und Tim Steimle von der TK, senkten sofort die Daumen. Viel zu teuer. Viel zu gefährlich für die laufenden Rabatt- und insbesondere die Exklusivverträge, so ihr Blickwinkel auf die aktuelle Lage.
Maßnahmen bei Marktverengung
Burkhardt sprach dagegen von einem „chirugischen Eingriff“ mit überschaubaren Kosten. Keine 2000 Produkte seien betroffen, außerdem sei ja die Analyse durch den Beirat vorgeschaltet. Aber über die Zahlen wurde man sich an dem Abend nicht einig: Während Pro Generika auf Basis der Herstellerabgabepreise den gesamten Generikamarkt auf 2 Milliarden Euro beziffert, erschienen Piechtota selbst die geschätzten 700 Millionen Euro an Mehrkosten durch das ALBVVG nur für den Bereich der Kinderarzneimittel noch zu niedrig.
Und während die Hersteller noch beklagen, dass Lockerungen erst einmal nur für Kinderarzneimittel vorgesehen sind und weitere Produktgruppe frühestens 2026 folgen können, verteidigte Piechotta die Strategie von Bundesgesundheitsministerium Karl Lauterbach (SPD): Da es derzeit viele Reformen gebe, wolle man sich erst einmal mit einer Wirkstoffklasse vortasten und Erfahrungen sammeln. Wo allerdings Tamoxifen beziehungsweise Krebsmedikamente auf dem Weg vom Referenten- zum Kabinettsentwurf verschwunden sind, konnte oder wollte sie auch nicht sagen.