Noch spricht kein Gesundheitspolitiker von Sparmaßnahmen. Doch vor dem Hintergrund der jüngsten Verhandlungen mit den Krankenkassen hat Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), bei der Vertreterversammlung in Berlin andere gesetzliche Regelungen gefordert, um die Praxen arbeitsfähig und wirtschaftlich überlebensfähig zu halten. Und Vorstand Dr. Thomas Kriedel warnte vor Ausfällen bei der überstürzten Einführung des E-Rezepts und forderte eine Haftung seitens der Gematik.
Die nächste Bundesregierung, wie auch immer sie aussehen wird, müsse laut Gassen dafür sorgen, dass die Menschen in Deutschland zukünftig nicht schlechter versorgt werden. „Wir brauchen keine Bürgerversicherung, die keins der Probleme der gesetzlichen Krankenversicherung löst, sondern wir brauchen eine solide Finanzierungsgrundlage für die Praxen“, sagte der KBV-Chef.
Gassen bezog sich auf die Honorarverhandlungen und tadelte die Krankenkassen, die Praxen gerade jetzt mit einer Nullrunde abspeisen zu wollen: „Dass ausgerechnet bei denjenigen gespart werden soll, die die Pandemie gestemmt haben, ist nicht akzeptabel. Der ambulante Schutzwall hat doch gerade dazu beigetragen, viele teure Krankenhauseinweisungen zu vermeiden. 13 von 14 Covid-19-Patienten wurden ambulant behandelt!“ Davon hätten auch die Krankenkassen profitiert. „Diese geforderte Nullrunde dann auch noch als Entgegenkommen zu bezeichnen, weil man eigentlich absenken wollte, ist dann allerdings nur noch unverschämt“, kritisierte Gassen.
Ungeachtet dessen, wie sich die künftige Bundesregierung zusammensetzen und wer Gesundheitsminister werde, appellierte der KBV-Chef: „Ganz egal, wer schließlich die gesundheitspolitische Verantwortung in diesem Land trägt, eines können wir ihr oder ihm jetzt schon mit auf den Weg geben: Ohne eine auskömmliche Finanzierung der ambulanten – und natürlich auch der stationären – Versorgung geht es nicht!“ Man könne über vieles streiten, aber dass die Gesundheit das Letzte sei, woran man sparen sollte, habe nicht zuletzt die Pandemie gezeigt.
Kriedel mahnte, dass bei der Digitalisierung die Versorgung im Fokus und am Anfang aller Überlegungen stehen müsse – und nicht die Technik. E-Patientenakte (ePA), E-Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) und E-Rezept seien bislang rein politisch gewollt und rein politisch sowie technisch umgesetzt. „Kein digitales Formular hat auch nur eine einzige medizinische Behandlung verbessert; stattdessen aber die ambulante medizinische Versorgung massiv erschwert. Und das in einer Pandemie“, so Kriedel.
Der Nationale Normenkontrollrat habe in seinem jüngst veröffentlichten Servicehandbuch die stets von der KBV geforderten Phasen eines Digitalisierungsprojektes bestätigt. „Der Normenkontrollrat gibt uns da nun recht. Und so fordern wir die Gematik dazu auf, künftig dementsprechend vorzugehen“, so Kriedel. Zudem müsse für das Testen aller Komponenten und Anwendungen ein verlässlicher und valider Standard geschaffen werden. „Sollte die Gematik das nicht selbst schaffen, muss die Politik vielleicht über eine Art TÜV für alles nachdenken, was in die Telematikinfrastruktur (TI) und damit auch in die Praxis soll“, fordert Kriedel.
Die Vertragsärzteschaft wolle Digitalisierung. „Und zwar eine Digitalisierung, die der Versorgung der Menschen dient – und nicht eine, in der die Vertragsärztinnen und Psychotherapeuten versorgungsfremden politischen Ambitionen dienen“, bekräftigt Kriedel. Er bemängelte, dass sich die Digitalisierungspolitik in den vergangenen Jahren von dieser Versorgungsperspektive gelöst und verselbstständigt habe. Bei der Einführung der eAU und des E-Rezepts entscheide allein der medizinische Bedarf darüber, wie häufig sie zur Anwendung kommen. „Wir sprechen von 350.000 Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und sogar von knapp zwei Millionen Verordnungen pro Tag! Da können wir uns nicht auch nur einen einzigen Tag leisten, unausgereifte Technik und Abläufe in die Praxen geschüttet zu bekommen“, sagt Kriedel. Daher empfehle die KBV den Praxen ganz ausdrücklich, die Übergangszeit bis zum 1. Januar zu nutzen, um die eAU außerhalb der Sprechzeiten Schritt für Schritt zu testen.
Kriedel forderte zudem eine Konsolidierungsphase, in der sich die bereits eingeführten oder angestoßenen Anwendungen in den Praxisabläufen etablieren können, bevor weitere Neuerungen eingeführt werden. Zudem sollte die komplette Betriebsverantwortung für die TI bei der Gematik oder auf jeden Fall in einer Hand liegen. „Wir brauchen eine Ausfallsicherheit von 99,99 Prozent mit redundanten Strukturen als Sicherheitsnetz. Und zwar für alles, was zum Betrieb der TI zählt. Wenn der Gesetzgeber schon alle in die TI zwingt, dann muss er auch dafür sorgen, dass alle die TI zuverlässig nutzen können“, so Kriedel.
Die KBV werde sich für ein Frühwarnsystem bei Störungen einsetzen, aus dem die Praxen direkt erkennen können, ob die Störung aus der TI komme oder mit ihrem Praxisverwaltungssystem zusammenhänge. „In den zurückliegenden Wochen gab es 15 Störungen in der TI. Im Schnitt dauerte es siebeneinhalb Stunden, bis sie behoben waren. Das entspricht zusammengenommen grob fünf Millionen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und fast 30 Millionen Verordnungen!“, bekräftigt Kriedel.
Mit ihrer eigenen IT-Strategie distanziere sich die KBV zudem klar von der aktuellen Strategie „TI 2.0“ der Gematik. „Die Gematik-Strategie stellt wieder vor allem die Technik-Perspektive an den Anfang aller Überlegungen. Mit seinen 51 Prozent Stimmrecht will das Bundesgesundheitsministerium dieses Konzept noch schnell in der nächsten Gematik-Gesellschafterversammlung am 29. September vor der Übergabe an eine neue Regierung fixieren“, sagt Kriedel.
Mit dem Konzept wäre nach jetzigem Stand auch der sogenannte „Zero-Trust-Ansatz“ beschlossen, eine Abkehr vom jetzigen Hardware-Konnektor als Anschluss an die TI. Eine Software-Lösung sei zeitgemäß; jedoch müssten die Sicherheitsfunktionen der Konnektoren für die Praxen ersetzt werden. „Deshalb stellen wir vier Bedingungen auf: 1. Die Betriebs- und Sicherheitsverantwortung der gematik im Zero-Trust-System muss eindeutig geregelt und eingerichtet sein. 2. Kein Abwälzen der Verantwortung sowie organisatorischer Maßnahmen auf die Praxen. 3. Ein bruchfreier Übergang, ohne Stören des Praxisablaufs. Und 4. Alle Kosten, die durch die neuen Vorgaben entstehen, sind durch den Gesetzgeber beziehungsweise durch die Krankenkassen zu finanzieren“, fordert Kriedel.
Eine Gefahr sieht Kriedel zudem in der sogenannten E-Evidence-Verordnung, die auf EU-Ebene kurz vor der Verabschiedung steht. Geplant ist, dass Ermittlungsbehörden anderer EU-Staaten bei Verdacht auf gewisse Straftaten auch die Herausgabe medizinischer Daten verlangen können. Kriedel: „Wir sehen hier nichts weniger in Gefahr, als das ärztliche Berufsgeheimnis. Das lehnen wir entschieden ab!“ Die KBV versucht über die Ärzteverbandsvertretung CPME in Brüssel positiv einzuwirken und hat auch das Bundesgesundheitsministerium (BMG) kontaktiert. „Wir hoffen, dass Parlament und Rat hier noch zu einer Einigung finden, die dem deutschen Datenschutz und der ärztlichen Schweigepflicht entspricht. Ansonsten nämlich ist in Deutschland nicht nur die ePA in Gefahr – sondern die Digitalisierung insgesamt“, so Kriedel.
Im Kampf gegen Corona hofft Gassen, dass etwas mehr Rationalität in die Debatte kommt. „Nach anderthalb Jahren im Krisenmodus brauchen wir endlich eine rationale Diskussion – nicht auf Basis von Vermutungen und Befürchtungen, sondern von medizinisch-wissenschaftlichen Fakten“, erklärte der KBV-Vorstandschef. Diese gebe es mittlerweile und es würden jeden Tag mehr. Das sei es, was die heutige Situation von der im Sommer vorigen Jahres unterscheide. „Auch wissen wir jetzt evidenzbasiert: Die Null-Covid-Strategie funktioniert nirgendwo“, so Gassen.
Er plädierte dafür, sich weiter vor allem darauf zu konzentrieren, noch ungeimpfte Erwachsene zu gewinnen, die grundsätzlich impfwillig seien. Auf diese Weise lasse sich eine möglichst breite Grundimmunisierung zu erreichen, bevor ohne wissenschaftliche Grundlage ungezielt ein drittes Mal geimpft würde. Gassen: „Deshalb rufen wir als niedergelassene Ärzte heute erneut alle Erwachsenen auf, die sich bislang nicht entschließen konnten oder wollten: Lassen Sie sich impfen!“ Die Impfung schütze nachweislich vor schweren Verläufen und Tod durch Covid-19. Es gebe kaum jemanden, für den eine Impfung aus medizinischen Gründen nicht in Frage komme.
Politikern empfahl Gassen, in Bezug auf die Booster-Impfung auf medizinische Expertise zu hören. Das entscheidende Gremium hierfür sei die Ständige Impfkommission. Sie habe sich stets an der aktuell verfügbaren wissenschaftlichen Datenlage orientiert. „Darauf müssen ihre Empfehlungen beruhen und nicht auf dem, was der eine oder andere Politiker oder Politikerin sich wünscht. Eine Impfung ist kein Freibier, sondern eine medizinische Maßnahme und muss auch als solche behandelt werden!“, konstatierte der KBV-Chef.
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