Dronabinol: Kasse blamiert sich vor Gericht Tobias Lau, 10.10.2020 07:59 Uhr
Auch dreieinhalb Jahre nach der Zulassung von medizinischem Cannabis ist es noch regelmäßig ein großes Ärgernis für Patienten und Ärzte, dass Krankenkassen die Erstattung verweigern. In Brandenburg hat nun eine Patientin einen Erfolg gegen ihre Krankenversicherung erkämpft: Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) hat die Kasse per einstweiliger Anordnung verpflichtet, ihre Behandlung mit öligen Dronabinoltropfen 25 mg/ml zu bezahlen – und dabei kein gutes Haar an ihr gelassen. Insbesondere den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) lassen die Richter schlecht dastehen.
Seit zwei Jahren streitet sich die Patientin nun vor dem Sozialgericht Neuruppin mit ihrer Kasse darüber, ob sie zur Behandlung ihrer zahlreichen gesundheitlichen Probleme das Dronabinol erhält, das ihr zusteht – und dass es ihr zusteht, daran lässt das Gericht in ungewohnt eindeutigen Worten keinen Zweifel aufkommen. Die 1974 geborene Frau bezieht Erwerbsminderungsrente, weil sie sich in einem bedrückenden Gesundheitszustand befindet: „Sie leidet im Wesentlichen an einem stark ausgeprägten Restless-Legs-Syndrom mit massiven Schlafstörungen, einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren, einer Migräne, einer rezidivierenden depressiven Störung, einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung (Borderline) und einem Tinnitus“, so das LSG.
Trotz dieser gesundheitlichen Lage und des Umstands, dass laut ihrer behandelnden Ärztin alle therapeutischen Maßnahmen ausgeschöpft wurden, kam der MDK zu dem Schluss, dass ihr keine Erstattung für die Behandlung mit Dronabinol zustehe. Also zog die Frau 2018 vor das Sozialgericht Neuruppin – und musste im Eilverfahren erst einmal eine Niederlage einstecken. Im März dieses Jahres fassten die Richter nämlich den Beschluss, dass die Kasse vorerst nicht zahlen muss. Also zog die Patientin weiter vor das LSG. Und das kassierte nun den Beschluss aus Neuruppin.
Dabei lassen die Richter durchblicken, dass der MDK bei seiner Ablehnung wohl alles andere als gewissenhaft gearbeitet hat. „Die rechtlichen Voraussetzungen für eine Versorgung mit Dronabinol liegen in geradezu idealtypischer Weise vor“, schreiben sie in ihrem Beschluss. Gemäß Sozialgesetzbuch haben Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung Anspruch auf Versorgung mit dem Wirkstoff Dronabinol, wenn eine medizinische Standardleistung nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes nicht zur Anwendung kommen kann und eine „nicht ganz entfernt liegende Aussicht“ auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht. Die Genehmigung, die die Krankenkasse vor Beginn der Leistung erteilen muss, darf dabei nur in nachvollziehbar begründeten Ausnahmefällen abgelehnt werden.
Rein medizinisch gibt es laut Gerichtsbeschluss keinen Zweifel, dass der Frau das Dronabinol zusteht: „Schon das stark ausgeprägte Restless-Legs-Syndrom erfüllt das Merkmal einer ‚schwerwiegenden Erkrankung‘, was auch Antragsgegnerin und MDK annehmen und was daher keiner weiteren Vertiefung bedarf“, heißt es da. Auch das zweite zentrale Merkmal – die begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes – liege vor: „Schlüssig, geordnet, mit Nachdruck, in der Sache überzeugend und unter Übernahme fachärztlicher Verantwortung führt die Neurologin Dr. T insoweit […] aus, wie gravierend die Leiden der Antragstellerin in der Summe sind und welche insbesondere pharmakologischen Therapieansätze verfolgt wurden.“ Bei der Patientin waren demnach alle medikamentösen und nicht-medikamentösen Möglichkeiten angewandt und ausgereizt worden. Trotz erheblicher Nebenwirkungen habe sich aber kein ausreichender Behandlungserfolg eingestellt. „Aus Sicht der Ärztin sei bei gleichbleibendem Leiden die (nicht)medikamentöse Therapie ausgeschöpft, die Antragstellerin sei austherapiert.“
Die Ärztin habe deshalb als Ultima Ratio einen Therapieversuch mit Dronabinol verordnet – zu dem sie keine Alternative sehe – und das auch mit mehreren Studien zur Behandlung des Restless-Legs-Syndroms mit Dronabinol begründet. Dabei hat sie nach Ansicht der Richter alles richtig gemacht: „Nach der Erfahrung des Senats mit einer Vielzahl von ‚Cannabis-Fällen‘ [...] können die im Gesetz angelegten medizinischen Voraussetzungen für einen Leistungsanspruch ärztlich nicht besser vorgetragen werden als im vorliegenden Fall“, schreiben sie. Der Senat sehe „einen ärztlich so gründlich und überzeugend aufbereiteten Sachverhalt, dass ein Leistungsanspruch mehr als nur nahe liegt“.
Und die Kasse? Deren MDK hat ganze vier Gutachten zu dem Fall verfasst, es aber offenbar nicht geschafft, darin auch nur annähernd überzeugende Argumente vorzubringen. „Auffällig ist, dass die MDK-Gutachten […] argumentativ, in der konkreten Patientenbezogenheit und in der medizinischen Analyse weit hinter dem Niveau der oben erörterten begründeten Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes zurückbleiben“, so die Richter. Unter anderem hatte der MDK argumentiert, die Dronabinoltherapie könne „nachteilige Nebenwirkungen“ in Bezug auf eine Essstörung der Patientin sowie ihre Persönlichkeitsstörung haben. Dabei hatte die behandelnde Ärztin bereits in ihrem Befundbericht ausgeführt, dass das Krankheitsbild der Patientin so komplex sei, dass man nicht sagen könne, welche Auswirkungen Dronabinol auf die psychiatrische Erkrankung nach sich ziehen werde. Vielmehr sei die Patientin „mit ihren Therapien so am Limit“, dass die Dronabinolgabe als Therapieversuch als „letzter Rettungsanker“ sinnvoll sei.
„Bei dieser Sachlage ist es fernliegend, einen begründeten Ausnahmefall anzunehmen“, so die Richter. Unwägbarkeiten seien in Kauf zu nehmen, da die Antragstellerin sich zweifellos in engmaschiger und verantwortungsvoller fachärztlicher Behandlung befinde. Dadurch werde gewährleistet, dass mögliche Nebenwirkungen ärztlich kontrolliert beobachtet werden. Und das LSG wird in seiner Einschätzung noch deutlicher: Angesichts der Schwere des Falls würde die Verweigerung des ärztlich überzeugend vertretenen Behandlungsversuchs nicht nur den einfachgesetzlichen Anspruch der Patientin auf Versorgung mit Dronabinol verletzen, sondern sogar ihre Grundrechte.
Die Richter beschlossen deshalb, dass die Krankenkasse der Patientin von nun an mindestens ein Jahr lang ihr Dronabinol bezahlen muss – und maximal so lange, bis im Hauptsachverfahren endgültig entschieden ist, ob sie das muss. Innerhalb dieses Zeitraumes werde sich auch zeigen, ob die Therapie mit Dronabinol eine positive Wirkung zeigt. Ist das der Fall, werde die Kasse auch über diese Jahresfrist hinaus zahlen müssen. Auch die außergerichtlichen Kosten der Patientin für das gesamte Verfahren muss die Kasse demnach zahlen.
Und die Richter halten auch nicht hinterm Berg mit ihrer Überzeugung, wie das nach wie vor anhängige Hauptsacheverfahren in Neuruppin ausgehen sollte. „Eine vorübergehende Vorwegnahme der Hauptsache ist insoweit hinzunehmen“, schreiben sie und merken an: „Die begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes ist im vorliegenden Fall von so hoher Dichte und Qualität, dass kaum erkennbar ist, warum die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens – wie vom Sozialgericht im Hauptsacheverfahren offenbar beabsichtigt – noch geboten sein soll.“