Zukunftsmusik beim Bundesverband der Arzneimittel-Hersteller (BAH). Demographie, Digitalisierung, Zunahme chronischer Erkrankungen und Urbanisierung erzwingen Veränderungen in der Arzneimittelversorgung. Die Selbstmedikation wird aus Sicht des BAH einen höheren Stellenwert erlangen. Bei den Patienten bedingt dies eine höheres Maß an Gesundheitskompetenz und bei Ärzten und Apothekern mehr Beratungsleistungen. Und die Digitalisierung sorgt für neue Vertriebswege: In den USA werden OTC-Arzneimittel bereits per Drohne über dem Patienten im Park abgeworfen.
Ein Ausblick in die Zukunft der Arzneimittelversorgung gab zum Auftakt der Veranstaltung „BAH im Dialog“ Zukunftsforscherin Corinna Mühlhausen. Vier Mega-Trends werden danach auch das Gesundheitswesen dominieren: Die Digitalisierung fördert die Nachfrage nach individuellen Gesundheitsangeboten. In den Vordergrund des Patienteninteresses rücken Wohlbefinden, Leistungsfähigkeit, aber auch Schönheit. Derzeit gibt es weltweit bereits 100.000 bis 200.000 Apps mit unterschiedlichen Angeboten zu Sport, Ernährung und Medikationsanalysen. Immer neue Angebote werden die Nachfrage nach individuellen Lösungen forcieren.
In den USA sorgt eine App laut Mühlhausen bereits für die Lieferung von OTC-Arzneimitteln per Drohne: „Das Arzneimittel wird per GPS-Ortung über dem im Park wartenden Patienten abgeworfen.“ Im Fachjargon wird das „situation based services“ genannt. In Großbritannien arbeitet ein Kaffeeautomat per Gesichtserkennung, misst den Body-Mass-Index (BMI) der Kunden und gibt Empfehlungen zur Zuckerdosierung. In der Entwicklung befinden sich „Food-Tracker“, die die Essgeräusche erkennen und analysieren und daraus Ernährungsempfehlungen ableiten. In Russland wirbt eine Bank mit dem Slogan „healthy is the new wealthy“ um Kunden, deren Gesundheitszustand über die Höhe der Kreditzinsen entscheidet – je gesünder desto niedriger.
Das alles sind Trends, die laut Mühlhausen den Gesundheitsmarkt revolutionieren. „Das Smartphone wird zur Schnittstelle“ für die Gesundheitsversorgung. Es sammelt Gesundheitsdaten, beispielsweise über Socken mit eingebauten Sensoren (gibt es schon) oder über Blutzuckerdaten. Aber wie können die Patienten mit der Datenfülle umgehen? „Selbstbestimmtheit ist die neue Lebensqualität“, glaubt Mühlhausen und empfiehlt Apothekern und Ärzten dringend zum Aufbau einer Online-Anlaufstelle für alle medizinischen Fragen. Der Online-Doktor oder Online-Apotheker könne und müsse als Erstkontakt die heilberufliche Einordnung vornehmen.
Für 77 Prozent der Deutschen sei die Gesundheit inzwischen der wichtigste Wert, 65 Prozent seien bereit, „sehr viel“ für ihre Gesundheit zu tun und immerhin noch die Hälfte halte die sogenannte „Selbstoptimierung“ durch Sport und gesunde Ernährung für wichtig. Die Offenheit für digitale Gesundheitsangebote wie Apps und darauf basierte Geschäftsmodelle sei riesengroß, so Mühlhausen. In Schweden biete die Firma „Apothek“ bereits virtuelle Realitäten für Schmerzpatienten an, um sie per Videobrille in schmerzlindernde virtuelle Welten eintauchen zu lassen.
Auf der anderen Seite fördere das kommende „E-Health-Paradies“ die Sehnsucht der Patienten nach „High Touch“, also nach persönlicher Betreuung. „Glocalisierung“ sei ebenfalls ein Mega-Trend der Zukunft. „Ortsansässige Anbieter genießen extrem hohes Vertrauen“, so Mühlhausen. Auch in einer globalen, digitalisierten Gesundheitswelt, dem „vernetzten Gesundheitsdorf“, gebe es daher für Apotheker gute Chancen.
Das BAH sieht sich durch solche Zukunftsszenarien in seiner Forderung nach Ausweitung der Selbstmedikation bestätigt. „Die Selbstmedikation führt zu gesunden Perspektiven“, sagte Stefan Meyer, OTC-Deutschlandchef bei Bayer. Zum Auftakt der Diskussion forderte Meyer, den OTC-Switch von Arzneimitteln zu erleichtern, um der Selbstmedikation bessere Möglichkeiten einzuräumen. Selbstmedikation erspare dem GKV-System jährlich 21 Milliarden Euro Ausgaben. Bereits heute beziehe sich jeder zweite Kundenkontakt in der Apotheke auf ein OTC-Produkt. Meyer: „Arzt und Apotheker werden mit ihrer Kompetenz und Beratungsleistung immer wichtiger.“ Daher bleibe die Apothekenpflicht der OTC-Arzneimittel ein wichtiger Eckpfeiler auch als niedrigschwelliger Zugang für Patienten. Voraussetzung dafür sei die Aufrechterhaltung der flächendeckenden Arzneimittelversorgung durch Apotheken.
Professor Dr. Gerd Glaeske warnte hingegen vor ausufernder Selbstmedikation. Nicht alle Patienten brächten die notwendige Gesundheitskompetenz mit. Diese hänge eng mit dem Bildungsgrad und dem sozialen Status zusammen. Gerade ältere Patienten nähmen „eher zu viel Arzneimittel“. Glaeske: „Es geht um Reduzierung.“ Bei vier oder fünf Arzneimitteln sei die Wechselwirkung nicht mehr kontrollierbar. Die Apotheken seien gerade bei der Selbstmedikation „unverzichtbar“. Glaeske: „Sie erkennen die Risiken und könne sich mit den Ärzten rückkoppeln.“
Stefan Fink, Vorsitzender des Apothekerverbandes Thüringen, sieht als Lösung die Forcierung des digitalen Patientenfaches. „Auf der Basis aller Informationen können wir Entscheidungen treffen, massiv helfen und die Patienten vor Schaden bewahren.“
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