Digitalisierung: Großer Gewinner sind die Kassen Tobias Lau, 22.10.2019 12:11 Uhr
Wenig fürchten Branchenkenner mehr an den digitalen Veränderungen im Apothekenwesen als eine Abwanderung von Verschreibungen an die Versender durch das E-Rezept. Nicht nur, dass die Schwelle, das Rezept zu versenden, durch einen Klick in einer App entscheidend verringert wird. Auch eine gezielte Lenkung am Zuweisungsverbot vorbei bereitet Vor-Ort-Apotheken Sorge. Eine Studie der Unternehmensberatung Roland Berger stützt diese Bedenken nun: Demnach gehen Experten davon aus, dass die Krankenkassen Patientenströme schon in naher Zukunft viel stärker lenken als noch heutzutage. Ihre Datenhoheit wird dabei zu ihrem Trumpf.
Man kann nicht behaupten, dass es eine gänzlich ungesteuerte Entwicklung wäre. Ganz im Gegenteil: Mit dem Digitale-Versorgungs-Gesetz (DVG) bemüht sich Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) derzeit, seinen Beitrag zur Digitalisierung des Gesundheitswesens zu leisten. Während die künftige Erstattungsfähigkeit von digitalen Therapieangeboten die größte öffentliche Aufmerksamkeit erhält, könnten eine andere Neuregelung viel größere Auswirkungen entfalten: Kassen soll ermöglicht werden, in innovative und digitale Unternehmen zu investieren.
Denn die Bedeutung digitaler Gesundheitsangebote nimmt rapide zu – schneller als bisher erwartet, so die Studienautoren der Unternehmensberatung. So werde das Marktvolumen für digitale Produkte und Dienstleistungen bereits bis 2025 bei rund 38 Milliarden Euro in Deutschland und etwa 155 Milliarden Euro in der EU liegen. Roland Berger hatte 400 Gesundheitsexperten aus aller Welt zu ihren Prognosen befragt.
61 Prozent der Befragten gehen dabei davon aus, dass sich dieses Volumen nicht nur auf heimische Unternehmen verteilen wird – sondern große Techkonzerne wie Amazon, Google oder Apple schon in wenigen Jahren zu den etablierten Playern gehören werden. Dabei gehen einige Branchenbeobachter davon aus, dass die Konzerne sich vor allem über Kooperationen im Gesundheitsmarkt etablieren werden „und bald auf Augenhöhe mit klassischen Akteuren des Gesundheitsmarktes positioniert sind“.
So weit sei es allerdings noch nicht. „Bisher müssen sich Internetunternehmen hier allerdings auf eine Rolle als Vermittler beschränken“ – die sie allerdings vor allem in zwei Bereichen ausfüllen könnten: Apothekenversandhandel und Data Analytics. So plane Amazon schon jetzt, über seine virtuellen Arztpraxen Arzneimittel zu verschreiben und sie dann auch direkt auszuliefern. „In der Konsequenz müssen alle Anbieter auf dem Gesundheitsmarkt darauf gefasst sein, dass neue Wettbewerber wie Google & Co. über kurz oder lang in ihre angestammten Reviere eindringen.“
Und sie werden sich ein großes Stück vom Kuchen sichern: Der Studie zufolge werden bis 2025 rund 8 Prozent der Gesamtausgaben im Gesundheitssektor auf digitale Produkte und Dienstleistungen entfallen. Auch auf die Arzneimittelpreise werde sich die Digitalisierung auswirken, vermuten die Befragten: 40 Prozent prognostizieren, dass die Arzneimittelpreise aufgrund einer „noch stärkeren Beweislast“ in Zukunft noch stärker wirksamkeitsbasiert und erfolgsabhängig sein werden. Dabei werde die Bedeutung von Daten aus klinischen Studien zugunsten von „Echtdaten“ abnehmen.
Welche Verschiebungen im Markt die neuen Player und ihre Angebote auslösen, lasse sich hingegen noch nicht seriös prognostizieren. „Niemand vermag aktuell vorauszusagen, ob die genannten Summen als Zusatzvolumina generiert werden oder Verdrängung sind beziehungsweise in welchem Verhältnis bei de Effekte zueinander stehen“, schreiben die Autoren.
Sicher ist aber, dass Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI) in den nächsten Jahren nicht nur die Gesundheitsversorgung, sondern auch die Rollen der einzelnen Akteure im Gesundheitswesen maßgeblich verändern werden. So werde KI vor allem in der Diagnose, Überwachung und Prävention große Bedeutung zukommen. Aber auch KI-basierten Therapieentscheidungen und digitalen Therapien wird eine große Zukunft prophezeit: „20 Prozent der ärztlichen Leistungen könnten durch KI ersetzt werden“, so die Studie. Darüber hinaus könnten demnach schon bald rund 30 Prozent aller Behandlungen durch individualisierte Therapien begleitet werden und 40 Prozent Unterstützung von digitalen Zwillingen erhalten, um Therapien vorab zu testen.
Gewinner der Entwicklung könnten vor allem die Krankenkassen sein. Sie werden der Studie zufolge „in Zukunft eine deutliche größere Rolle spielen und ihre Versicherten viel stärker als heute steuern – etwa im Hinblick auf die Nutzung bevorzugter Anbieternetzwerke für Diagnosen und Therapien“. Rund 80 Prozent der Befragten gingen davon aus, dass das bereits 2025 der Fall sein wird. Dabei kommt ihnen zugute, dass sie nicht nur die gesamte Versorgungskette überblicken, sondern auch über den größten Schatz des digitalen Zeitalters verfügen: Die umfassenden Datensätze und -ströme ihrer Versicherten. Knapp die Hälfte der Befragten rechnet außerdem damit, dass Versicherungen im gleichen Zeitraum digitale Diagnosen und Therapieunterstützungen anbieten werden. Nur rund ein Drittel erwartet hingegen, dass es den Versicherungen bis 2025 gelingt, die Inzidenz von LifestyleErkrankungen durch direkten Einfluss auf das Verhalten der Patienten deutlich zu reduzieren.
Damit könnten aber Grundstrukturen des deutschen Gesundheitswesens wie die freie Arztwahl bald zur Disposition stehen, langfristig aber auch das Zuweisungsverbot – wenn auch nicht formaljuristisch, aber zumindest durch die gelebte Praxis von Kassen und Gesundheitsdienstleistern. Für die bisher etablierten Akteure wird es deshalb nicht nur darum gehen, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen, sondern auch ihre jeweiligen Vorteile – beispielsweise den direkten Kontakt und das Vertrauensverhältnis zu den Patienten – auszuspielen.