BSG muss entscheiden

AOK-Retaxationen: „Nicht hinzunehmende Rechtsunsicherheit“

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Berlin -

Die AOK Bayern retaxiert Verwürfe bei der Sterilherstellung deutlich strenger als andere Kassen. Von den Apothekern wird regelmäßig verlangt, die Haltbarkeit über die in der Hilfstaxe vereinbarten Fristen hinaus zu verlängern. Fast genauso regelmäßig trifft sich die Kasse deshalb mit den Retaxierten vor Gericht. Jetzt hat die AOK vor dem Sozialgericht Nürnberg eine Klatsche kassiert. Die Richter stützen sich im Urteil auch auf eine in einem Parallelverfahren eingeholte Stellungnahme des GKV-Spitzenverbands. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung geht die Sache jetzt direkt zum Bundessozialgericht (BSG).

Verhandelt wurde am 9. Juli, die 13 retaxierten Rezepte von sieben Versicherten stammen aus dem Mai 2012. Der klagende Apotheker forderte letztlich 828,50 Euro, die die Kasse aus seiner Sicht zu Unrecht retaxiert hat. Er berief sich auf die zwischen Deutschem Apothekerverband (DAV) und GKV-Spitzenverband vereinbarte Hilfstaxe. Dort ist in Anlage 3 geregelt, dass ein unvermeidbarer Verwurf bei der Herstellung eine nicht mehr weiterverarbeitungsfähige Teilmenge ist. Gemeint sind Anbrüche, „deren Haltbarkeit überschritten ist oder die aus rechtlichen Gründen nicht in einer anderen Rezeptur verarbeitet werden dürfen“.

Die AOK Bayern verweist aber auf die tatsächliche chemisch-physikalische Stabilität der Anbrüche, die nach den einschlägigen fachlichen Informationen und Erkenntnissen zu bemessen sei. Der Apotheker hätte sich aus ihrer Sicht nicht an der Hilfstaxe orientieren dürfen, sondern auf Publikationen zur Haltbarkeit von Anbrüchen zurückgreifen müssen, die etwa von Krankenhausapotheken durchgeführt würden. In 90 Prozent der Fälle würden hier längere Haltbarkeits- und Stabilitätswerte ermittelt.

Die Hersteller würden in den Fachinformationen ihrerseits überhaupt keine Angaben zur Haltbarkeit des Anbruchs machen, sondern nur zur Haltbarkeit der fertigen Lösung. Daher müssten die Apotheken etwa die „Stabil-Liste“ zur Rate ziehen. Die Zeitspannen der Hilfstaxe stellten ein absolutes Mindestmaß da. Die Beratungsapotheker der AOK habe erklärt, dass es bei der Beurteilung der Haltbarkeit von Zytostatika entscheidend auf die physikalisch-chemische Stabilität ankomme. Diese unterscheide sich von der Stammlösung im Vergleich zur fertigen Infusionslösung.

Doch das Sozialgericht erklärte alle beanstandeten Verwürfe als „nach der geltenden Hilfstaxe unvermeidbar und daher abrechnungsfähig“. Fazit am Ende eines langen Urteils: „Die Retaxierungen der Beklagten erfolgten daher alle zu Unrecht.“

Die Vertreter der Kassen und Apotheker hätten sich auf die Regelungen in der Hilfstaxe geeinigt und konkrete Daten zu Haltbarkeiten bestimmter Wirkstoffe festgelegt. Sie gebe dem Apotheker die Möglichkeit, einen Verwurf abzurechnen. Die Regelungen in der Hilfstaxe seien aber „kein Einfallstor für weitere pharmazeutische Prüfungen der Haltbarkeit von Wirkstoffen“, heißt es im Urteil. Die Hilfstaxe stellt dabei laut Gericht „reines Preisrecht“ dar.

Sie befreie den Apotheker gerade nicht von der pharmazeutischen Prüfung, sondern schaffe lediglich Regelungen für die Abrechnung. Apotheker dürften schließlich auch keine Zubereitung in Verkehr bringen, wenn sie diese – entgegen der Fristen in der Hilfstaxe – als nicht mehr haltbar angesehen würden. Andersherum gelte dies ebenso: Sei der Apotheker aufgrund seiner pharmazeutischen Kompetenz überzeugt, dass die Zubereitung über die Zeitspanne in der Hilfstaxe hinaus noch verwendbar sei, dürfe er sie in den Verkehr bringen.

Im Rahmen der Abrechnungsprüfung sei aber ausschließlich auf die in der Hilfstaxe definierten Haltbarkeitszeiten und auf die Angaben in den Fachinformationen abzustellen. Das habe der GKV-Spitzenverband in seiner Stellungnahme in einem Parallelverfahren 2016 bestätigt. Demnach seien die Zeitspannen festgelegt worden, um ein Höchstmaß an Abrechnungssicherheit und Transparenz für den herstellenden Apotheker und die Krankenkasse zu gewährleisten sowie etwaige Taxbeanstandungen auf ein Mindestmaß zu reduzieren.

Dabei seien alle zur Verfügung stehenden Fachinformationen der Wirkstoffe berücksichtigt worden. Diese seien Bestandteil der Arzneimittelzulassung und damit eine rechtsverbindliche Grundlage zur Bewertung der Haltbarkeit dar. Stabilitätsdaten von Herstellern seien dagegen produktspezifisch und fänden sich zum Teil nicht in den jeweiligen Fachinformationen wieder.

Der damals ebenfalls angefragte DAV hatte erklärt, dass sich die Zeitspannen für die Haltbarkeit aus wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und praxisrelevanten Erwägungen ergäben. Es gehe dabei vornehmlich um die Unbedenklichkeit hinsichtlich einer möglichen Keimbelastung. Die in der Hilfstaxe angegebenen Zeitspannen seien bindend. Ihr Überschreiten löse die Abrechnungsfähigkeit von Verwürfen aus.

Die Richter halten sich an diese Vereinbarungen der Vertragspartner: „Andere wissenschaftliche Erkenntnisquellen, wie Stabilitätsdatenblätter, Stabil-Liste etc. sind nach Auffassung der Kammer im Rahmen der Abrechnungsprüfung nicht heranzuziehen, denn es handelt sich dabei nicht um eine materiell-rechtliche pharmazeutische Haltbarkeits-Prüfung“, so das SG Nürnberg.

Müssten die Apotheken für die Abrechnung andere Erkenntnisquellen als die Fachinformationen und die Hilfstaxe einbeziehen, so hätte dies den Richtern zufolge „eine nicht hinzunehmende Rechtsunsicherheit“ für sie zur Folge. Eine derartige Interpretation widerspreche auch der Intention der Vertragspartner, „denn diese hatten gerade zum Ziel einheitliche, rechtsverbindliche Abrechnungsregelungen zu schaffen“.

Da sich beide Seiten auf eine Sprungrevision eingelassen haben und die Sache grundsätzliche Bedeutung hat, kann als nächstes direkt beim Bundessozialgericht verhandelt werden.

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