Die perfide (Un)logik der Apothekenreform Patrick Hollstein, 17.06.2024 15:05 Uhr
Die Apothekenreform von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) könnte der größte anzunehmende Unfall für die Pharmazie in Deutschland sein. Denn im gerade einmal 49 Seiten umfassenden Entwurf sind zahlreiche vermeintlich kleine Eingriffe vorgesehen, die das System Apotheke, wie wir es heute kennen, auf den Kopf stellen. Das Leitbild des Apothekers in seiner Apotheke droht bald der Vergangenheit anzugehören.
Anders als 2003, als mit der Zulassung von Versandhandel und beschränktem Mehrbesitz sowie der Freigabe der OTC-Preise erklärtermaßen für mehr Wettbewerb im Apothekenmarkt gesorgt werden sollte, kommt der aktuelle Entwurf nicht als offener Angriff auf das Apothekenwesen daher. Vielmehr hat man den Eindruck, dass es sich um ein technokratisches Versteckspiel handelt: Im Kleinklein den einzelnen Paragrafen sind massive Umwälzungen vorgesehen, die jedoch an keiner Stelle offen angesprochen werden.
Kein Geld für Apotheken
Getragen ist die Reform von dem Grundsatz, dass die Apotheken nicht mehr Geld bekommen sollen. Stattdessen sollen „strukturelle Anpassungen in den Vorgaben für die Eröffnung von Apotheken sowie deren täglichen Betrieb vorgenommen“ werden – sprich: Lockerungen im Apothekenrecht.
Laut Entwurf ist das Apothekenwesen geprägt durch zahlreiche Vorgaben, die Apotheken als Voraussetzung in der täglichen Versorgung einhalten müssen. „Solche Vorgaben sind auch weiterhin notwendig, soweit sie insbesondere der Sicherheit der Patientinnen und Patienten dienen. Gleichzeitig verursachen sie für die Apotheken zusätzliche Bürokratie sowie Kosten und sind daher hinsichtlich ihrer Aktualität zu überprüfen.“
Der Entwurf verspricht den Inhaberinnen und Inhabern verschiedene Vorteile: „Eine Entbürokratisierung bei diesen Vorgaben kann Apotheken helfen, eine bessere wirtschaftliche Basis durch Kosteneinsparungen zu erreichen und Fachkräfte effizienter einzusetzen. Dass teilweise zu wenig Fachkräfte zur Verfügung stehen, kann zudem ein Grund für das Schließen von Standorten sein. Im Sinne einer Fachkräftesicherung sollen der Fachkräfteeinsatz flexibilisiert und bestehende Hürden abgebaut werden, die den Apotheken eine Fachkräftegewinnung erschweren.“
Da sich mangels Honoraranpassung jede Inhaberin und jeder Inhaber ausrechnen kann, wie sich die Einnahmeseite in den kommenden Jahren bestenfalls entwickeln wird, wird man früher oder später gar nicht drumherum kommen, sich die neuen Entschlackungs- und Einsparmöglichkeiten genauer anzusehen – auch wenn man damit an der Zerstörung des eigenen Berufsbilds mitwirkt.
Honorarumverteilung
Die Absenkung der prozentualen Marge in den kommenden beiden Jahren von 3 auf 2,5 und dann auf 2 Prozent wird im Gesetzentwurf nicht begründet, soll aber wohl vor allem bei den Schwerpunktapotheken die Luft ablassen. Wörtlich heißt es: „Auf diese Weise wird die ungleichmäßige Verteilung der Packungshonorare zwischen den Apotheken aufgrund stark angestiegener Arzneimittelpreise in einigen Arzneimittelsegmenten ausgeglichen, während eine Kostendeckung für preisbezogene Kosten weiterhin erhalten bleibt. Die Änderung stärkt insbesondere grundversorgende Apotheken in der Fläche.“
Wie im Entwurf versichert wird, soll die Umstellung aber insgesamt neutral bleiben: Parallel soll nämlich das Fixum angehoben werden, von 8,35 Euro erst auf 8,66 Euro und dann auf 9 Euro.
Was im Entwurf nicht steht: Selbst wenn die Umstellung insgesamt ohne Verluste über die Bühne gehen sollte, würden die Apotheken dadurch weiter von der Entwicklung der Arzneimittelpreise abgekoppelt. Gerade bei Hochpreisern bliebe dann angesichts der Finanzierungskosten deutlich weniger bis gar nichts übrig. Immerhin: Einen Deckel wie beim Großhandel soll es nicht geben.
Honorarverhandlung
Abgesehen davon, dass das Fixum erstmals für 2027 verhandelt werden soll – ein Ergebnis muss bis 30. Juni 2026 vorliegen – enthält die Regelung eine Klausel, die die Position der Apotheken gezielt schwächt: Denn bei der Vereinbarung zwischen Deutschem Apothekerverband (DAV) und GKV-Spitzenverband sind nicht nur Änderungen des Verbraucherpreisindexes und der Grundlohnsumme zu beachten, sondern ist auch die „Entwicklung der Versorgungssituation zur Sicherstellung einer flächendeckenden Arzneimittelversorgung“ zu berücksichtigen. Heißt: Inflation und steigende Kosten sind nicht das einzige Kriterium. „Die Vereinbarungsparteien können im Rahmen der Verhandlungen ein gemeinsames Gutachten in Auftrag geben.“
Apotheken ohne Approbierte
Schlimmer hätte es hier eigentlich nicht kommen können: Während in den ersten Eckpunkten noch von „erweiterten Vertretungsmöglichkeiten für erfahrene PTA“ nur „in Filial- und Zweigapotheken“ die Rede war, enthielten die zweiten Eckpunkten ausschließlich das „vorübergehende Öffnen“ von „Apotheken und Filialen“ durch erfahrene PTA.
Daraus ist jetzt quasi ein Dauerzustand geworden, lediglich für einen Zeitraum von acht Stunden pro Woche muss der Apothekenleiter oder die Apothekenleiterin persönlich vor Ort sein. Ansonsten genügt es, wenn bei Bedarf eine Videoschaltung aufgebaut werden kann.
Apotheken ohne Approbierte sind ein Novum, selbst in Ländern wie Großbritannien mit seinen großen Apothekenketten muss bis auf wenige Ausnahmen stets ein Apotheker anwesend sein. Lediglich in Ländern wie Schweden oder im US-Bundeststaat North Dakota gibt es solche Modelle wie jetzt für Deutschland vorgesehen, in denen Apotheker per Videokonferenz zugeschaltet werden.
Entscheidend für die Ausgestaltung wird sein, welche Aufgaben weiterhin Approbierten vorbehalten sind – ob also ihnen beispielsweise auch der Notdienst vorbehalten ist. Die Pflicht zur Beaufsichtigung gilt nach bisherigem Stand weiter bei der Herstellung von Arzneimitteln zur parenteralen Anwendung, beim patientenindividuellen Stellen oder Verblistern von Arzneimitteln sowie bei der Abgabe von Betäubungsmitteln, von Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Lenalidomid, Pomalidomid oder Thalidomid und von Einzelimporten.
Abschied vom Filialleiter
„Mit dem Gesetzentwurf muss für eine Filial- oder Zweigapotheke keine Apothekenleitung mehr benannt werden.“ Vielmehr kann der Inhaber beziehungsweise die Inhaberin die Verantwortung selbst übernehmen. „Die Verantwortung liegt dann allein bei der Apothekeninhaberin oder dem Apothekeninhaber. Dies kann den Apothekeninhaberinnen und -inhabern helfen, eine bessere wirtschaftliche Basis durch Kosteneinsparungen zu erreichen und durch die Flexibilisierung Fachkräfte effizienter einzusetzen.“
Daraus ergibt ich auch die zulässige Zahl von drei Filialen plus zwei Zweigapoheken pro Hauptapotheke – auf diese Weise wäre für die Inhaberin oder den Inhaber ohne Filialleiter eine Präsenz vor Ort jeweils für einen Tag in der Woche möglich.
Ausgerechnet Betreiber von Apotheken in Städten könnten durch diese Regelung im Vorteil sein, weil sie ohne größere Fahrstrecken regelmäßig in der Filiale vorbeischauen können.
Wird doch ein Filialleiter ernannt, weil bestimmte Aufgaben sonst nicht zu leisten wären, müssen künftig „relevante Themen“ im Vorfled mit der Betreiberin oder dem Betreiber abgesprochen werden. „Damit kommen Apothekenbetreibende weiterhin ihren Verantwortlichkeiten nach.“
Neu hinzu kommen soll auch die Möglichkeit der Aufteilung der Leitung von Filial- und Zweigapotheken unter zwei Apothekerinnen und Apothekern – Stichwort Teilzeitarbeit. Umgekehrt könnte ein Filialleiter auch für mehrere Standorte zuständig sein, solange er eben acht Stunden vor Ort ist. Das entspricht dem Bild des Superintendent Pharmacist, der in großen Ketten oft für die Betreuung mehrerer Filialen verantwortlich ist.
Erweiterter Mehrbesitz
Filialen sollen nicht mehr nur in benachbarten Kreisen betrieben können, sondern auch in größeren Entfernungen. Dabei wird im Entwurf ausgerechnet mit der Behauptung argumentiert, dass auch bei größeren Entfernungen die persönliche Leitung möglich ist.
„Dem Erlaubnisinhabenden muss weiterhin eine effektive Kontrolle zur Ausübung seiner persönlichen Verantwortung möglich sein. Diese Vorgabe ist maßgeblich für die Entfernung zwischen den Apothekenstandorten eines Filialverbunds. Vor diesem Hintergrund könnte sich ein Filialverbund mit Filialen in städtischen und ländlichen Gebieten auf eine Fläche verteilen, in der zwischen den Filialstandorten eine PKW-Fahrtdauer von bis zu drei Stunden realistisch erscheint.“
Damit wird das Regionalprinzip, das bislang bei einer Stunde lag, deutlich ausgeweitet: Drei Stunden könnten mindestens 300 Kilometer entsprechen – mit Autobahnanbindung sogar noch weiter.
Filialverbund
Mit der Reform wird erstmals der Begriff des Filialverbunds eingeführt. Damit gelten die Standorte zunehmend als gleichwertig, bislang waren Filialen stets der Hauptapotheke nachgeordnet gewesen. „In diesem Verbund, der aus der Hauptapotheke, den zugehörigen höchstens drei Filialapotheken und höchstens zwei Zweigapotheken besteht, können bestimmte Apothekentätigkeiten von einer der Apotheken im Verbund für die anderen Apotheken durchgeführt werden.“
Zweigapotheken
Neben der Hauptapotheke und drei Filialen soll pro Inhaber oder Inhaberin der Betrieb von bis zu zwei Zweigapotheken erlaubt werden. Dabei muss kein „Notstand der Arzneimittelversorgung“ mehr vorliegen, sondern nur noch eine „eingeschränkte Arzneimittelversorgung“, etwa weil es vor Ort keine Apotheke gibt.
Zur Gründung einer Zweigapotheke muss auch keine Erlaubnis bei der zuständigen Behörde mehr eingeholt werden, sondern sie lediglich angezeigt werden.
Ziel ist es laut Entwurf, Zweigapotheken als Versorgungsform zu etablieren. Weder muss eine Rezeptur vorgehalten werden, noch ist eine mit den voll ausgestatteten Apotheken vergleichbare Dienstbereitschaft erforderlich. Auch die Öffnungszeiten sind noch einmal reduziert auf vier Stunden am Tag.
Gefahr: Fremdbesitz
Grundsätzlich soll an der Pflicht zur persönlichen Verantwortung festgehalten werden: „Der Betreiber hat mindestens eine der Apotheken (Hauptapotheke) persönlich zu führen“, heißt es unverändert. Klargestellt wird auch, dass der Apothekenleiter – entweder Inhaberin beziehungsweise Inhaber oder Filialleiterin beziehungsweise Filialleiter – die Apotheke persönlich zu leiten hat. „Er ist dafür verantwortlich, daß die Apotheke unter Beachtung der geltenden Vorschriften betrieben wird.“ Und: „Neben dem Apothekenleiter [...] ist auch der Betreiber für die Einhaltung der zum Betreiben von Apotheken geltenden Vorschriften verantwortlich.“
Und auch die Videoberatung soll nicht ausgelagert werden können: „Eine telepharmazeutische Beratung ist wie eine Beratung vor Ort in der Apotheke dem entsprechend befugten Personal der Apotheke vorbehalten und kann im Sinne der persönlichen Verantwortlichkeit von Apothekeninhabenden und Apothekenleitenden nicht durch externe Anbieter erfolgen.“
Allerdings ist vollkommen offen, welche juristischen Folgen die Aufweichung auf Dauer haben wird. Schon im Vorfeld hatten Experten gewarnt, dass sich das Fremdbesitzverbot in solchen Konstellationen auf Dauer nicht mehr rechtfertigen lässt, da es gerade die persönliche Leitung voraussetzt. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte 2009 explizit darauf abgestellt, dass Filialen nach den heutigen Regelungen in einem bestimmten räumlichen Umkreis liegen müssen, „damit eine hinreichende Anwesenheit des betreibenden Apothekers in den Filialen und deren tatsächliche Überwachung durch diesen gewährleistet ist“.
Notdienste
„Apotheken, die sich in Regionen mit geringer Apothekendichte befinden, müssen häufiger Notdienste leisten als Apotheken in Regionen mit hoher Apothekendichte. Dieser Einsatz soll besonders honoriert werden“, heißt es im Entwurf. Gleichzeitig wird damit zielgenau die Vergütung von Apotheken in ländlichen Gebieten verbessert.“
Laut Entwurf könnte die Pauschale auf rund 550 Euro steigen. Dazu soll der Betrag pro Packung von 21 auf 28 Cent angehoben werden – das Geld soll aus der Umlage für die pharmazeutischen Dienstleistungen kommen, die entsprechend von 20 auf 13 Cent gekürzt werden soll.
Tatsächlich könnte der Betrag aber noch deutlich höher ausfallen, weil in immer mehr Kammerbezirken die Zahl der Notdienste reduziert wird, die Pauschale aber unabhängig davon aus der Zahl der abgegebenen Packungen finanziert wird. So stieg die Notdienstpauschale im ersten Quartal schon auf 474 Euro, die geplante Anhebung um ein Drittel würde schon zu einem Betrag von 630 Euro führen.
Und das Ende ist noch nicht erreicht: Alleine in Bayern soll demnächst jeder dritte Notdienst wegfallen – was die Vergütung pro Notdienst weiter steigen lassen könnte. Damit sind die Apotheken in der Zwickmühle: Weniger Notdienste bedeuten eine höhere Pauschale – die Frage ist, wie lange das Ministerium einer solchen Entwicklung zusieht.
Hinzu kommt, dass mit der Notfallreform eine zusätzliche Struktur eingezogen werden soll, nämlich die Notfallapotheke an der Notfallpraxis. Diese soll zwar nur bis 21 Uhr geöffnet haben und aus einem anderen Topf vergütet werden. Auswirkungen auf den regulären Apothekennotdienst sind aber nicht auszuschließen.
Passend dazu könnten die Kammern beim Notdienst ein Stückweit entmachtet werden. Während die jeweilige Behörde derzeit die Befreiung von der dauerhaften Dienstbereitschaft ausspricht und die Kammern in der Regel dann die Einteilung der Notdienstapotheken übernehmen, muss künftig die zuständige Behörde – spiegelbildlich zur bisherigen Situation – die Zeiten zur Sicherstellung der Arzneimittelversorgung im Notdienst festlegen. „Durch diese Umstellung wird eine Erweiterung der Verordnungsermächtigung erforderlich.“
Öffnungszeiten
Die Dienstbereitschaft der Apotheken soll um 19,5 Stunden pro Woche verkürzt werden. Dadurch soll den Apotheken eine „größere Flexibilität bei ihren Öffnungszeiten“ ermöglicht werden. Montags bis freitags müssen Apotheken nur noch für die Dauer von jeweils sieben Stunden und sonnabends für die Dauer von vier Stunden während der ortsüblichen Geschäftszeiten geöffnet sein.
Tatsächlich wurden die Zeiten in mehreren Kammerbezirken bereits per Allgemeinverfügung reduziert. In Berlin, Brandenburg, NRW und Rheinland-Pfalz etwa müssten Apotheken sogar wieder eine Stunde pro Tag länger öffnen als bislang. Allerdings ist nicht ausgeschlossen, dass in den Ländern weiter Sonderregelungen möglich sind.
Geschichte schreiben
Fazit: Mit etwas gutem Willen kann man dem Entwurf zugestehen, dass er die bestehenden Herausforderungen im Apothekenmarkt lösen soll. Das Papier trägt aber ganz offensichtlich auch die Handschrift von Ministerialbeamten, die – so wie ihre Vorgänger vor 20 Jahren – die Chance nutzen wollen, im Apothekenrecht ein neues Kapitel aufzuschlagen und Geschichte zu schreiben. Lauterbach und seinem Leitungsstab und vor allem den Kassen dürfte es recht sein, dass sich die Apotheken auf neue Wirklichkeiten einstellen müssen.