Platzt der Prozess um den vermeintlichen Datendiebstahl aus dem Bundesgesundheitsministerium (BMG)? Die Verteidiger des angeklagten ehemaligen IT-Mitarbeiters meinen nach Durchsicht der zwischenzeitlich beigebrachten Ermittlungsakten nachgewiesen zu haben, dass der ermittelnde Kommissar diese vorsätzlich manipuliert hat. Sie fordern eine Einstellung des Verfahrens. Das Gericht hat heute noch nicht darüber entschieden.
Bei der Vernehmung des leitenden Ermittlers im April war herausgekommen, dass dieser bei Weitem nicht alle Dokumente zu den Akten gegeben hat, so wie es die Prozessordnung eigentlich vorsieht. Auf Anordnung des Gerichts wurden in den vergangenen Wochen mehrere Leitz-Ordner mit mehr als 1000 ausgedruckten E-Mails nachgereicht.
Die Verteidigung des Angeklagten H. hat nach noch nicht abgeschlossener Durchsicht etliche Hinweise darauf gefunden, dass immer wieder entlastendes Material bewusst unterschlagen wurde. Das sei ein „nicht behebbares Verfahrenshindernis”, weshalb das Verfahren durch Prozessurteil einzustellen sei.
Denn laut Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) müsse schon der bloße Anschein vermieden werden, die Ermittler wollten etwas vertuschen. Bei mehr als 1000 fehlenden Mails und einer „gezielten Desinformation“ des Gerichts und der Verteidigung durch Polizei und Staatsanwaltschaft sei in diesem Verfahren davon auszugehen. Die Ermittlungsbehörden hätten „verfahrensrelevante Vorgänge der offiziellen Ermittlungsakte in rechtswidriger Weise ferngehalten. „Nicht nur vereinzelt, sondern systematisch. Und nicht nur versehentlich, sondern vorsätzlich“, so Rechtsanwalt Nikolai Venn.
Rund eine Stunde lang trugen die Verteidiger Venn und Diana Nadeborn am heutigen 20. Verhandlungstag mutmaßliche Fehler bei den Ermittlungsbehörden vor. So wurde offenbar der intensive Austausch mit dem BMG in einem sehr frühen Stadium der Ermittlungen nicht zu den Akten genommen. Der leitende Ermittler hatte seine Akten in „offizielle“ und „inoffizielle“ getrennt. Informationen zum Sorgerechtsstreit des Angeklagten mit der Ex-Frau wurden gezielt aus den Akten gehalten. Sie ist die Hauptbelastungszeugin. Ihr neuer Lebensgefährte hatte zunächst anonym einen Hinweis im BMG gegeben.
Die Polizei wusste aufgrund eigener Ermittlungen, dass die Zeugin in einem anderen Verfahren wegen Falschaussage verurteilt worden war. Die Verteidiger gehen davon aus, dass auch diese Information bewusst aus der Akte gehalten wurde, um die Glaubwürdigkeit der Zeugin nicht zu beschädigen. Zwischenzeitlich war auch herausgekommen, dass das BMG sich bereit gezeigt hatte, die Ex-Frau für eine Zeugenaussage zu bezahlen. Der leitende Ermittler hatte umfangreich mit ihr korrespondiert und anscheinend auch Tipps im Sorgerechtsstreit gegeben. In diesem Zusammenhang soll er sogar direkt Auskünfte an Familiengericht und Jugendamt gegeben haben.
Weitere entlastende Dokumente aus offensichtlich beigezogenen Ermittlungsakten fanden sich der Verteidigung zufolge nicht in der Akte, sondern mussten eher zufällig gefunden werden. Insbesondere die Einstellung des ABDA-Verfahrens wäre für das Verfahren relevant gewesen.
Die Richter wirkten während dieser Ausführungen zunächst erschüttert und dann zunehmend resigniert. Die Hauptverhandlung wurde unterbrochen.
Anschließend führte auch der Anwalt des Mitangeklagten Thomas Bellartz, Professor Dr. Carsten Wegner, aus, wie sich aus den neuen Akten nunmehr „Details dieser behördlichen Geheimaktivitäten“ nachvollziehen ließen. Schwere Vorwürfe erhebt er gegen die Staatsanwaltschaft Berlin, die von dem allen hätte gewusst haben müssen. Doch bei der Ermittlungsbehörde hatten die Zuständigkeiten mehrfach gewechselt, so dass der Sitzungsvertreter in der Akte nicht besonders trittsicher wirkt. Auch beim Verhandlungstermin am vergangenen Montag hatte er eingeräumt, dass er die ABDA-Verfahrensakte sowie die Kontakte des Berliner Verfassungsschutzes zum Phagro erst jetzt zur Kenntnis genommen habe.
Damit sind Wegner zufolge nicht nur Schutzrechte der – unzureichend belehrten – Zeugen beschnitten, sondern vor allem die der Angeklagten. Denn der Staatsanwalt muss aus der Akte auch alle entlastenden Tatsachen zusammenführen. Dazu zählt in diesem Verfahren jenes parallele Ermittlungsverfahren gegen die ABDA wegen des vermeintlichen Führens schwarzer Kassen. Dieses wurde aber wegen mangelnden Tatverdachts eingestellt, auch die zunächst geplante Durchsuchung fand nicht statt. Der Lobbythese der Anklage wird damit das Fundament entzogen.
Weil der Staatsanwalt dies aus Mangel an Aktenkenntnis nicht ins Verfahren einbringen konnte, sei die Hauptverhandlung nicht ordnungsgemäß besetzt, rügte Wegner. Er forderte eine dienstliche Erklärung des Staatsanwalts zu prozessualen Fragen: Wann diesem die Anklageschrift vorlag und seit wann er von dem ABDA-Fall wusste? Denn laut Aktenlage wurde seit April 2013 wegen des Vorwurfs der Untreue gegen die ABDA ermittelt. Besonders heikel: Die Ermittler hatten eine „strikte Trennung“ der Verfahren in den jeweiligen Akten vereinbart, gleichzeitig aber einen „regen Informationsaustausch“.
Im Schlussbericht der Polizei heißt es dazu, dass es keine Belege für einen Geldfluss der ABDA gegeben habe, der leitende Ermittler hatte auch in Bezug auf Bellartz gegenüber der Staatsanwaltschaft von „recht dünn unterfütterten“ Taten und „spärlichen anderen Indizien“ gesprochen. Wegner moniert, dass auch dem Gericht diese Informationen vorenthalten wurden, als es darum ging, ob ein Verfahren eröffnet werden soll oder nicht.
Wegner zufolge wurde „getrickst“: In der Anklage würden Dinge behauptet, von denen die Ermittler vor Anklageerhebung sogar im eingestellten ABDA-Verfahren selbst nicht mehr ausgegangen seien.
Die Verhandlung wird am 10. Juli fortgesetzt. Bis dahin soll sich die Staatsanwaltschaft zu den gestellten Anträgen äußern. Das Gericht könnte beim nächsten Termin dann auch über die Aussetzung oder sogar Einstellung des Verfahrens entscheiden. Für den Folgetermin am 12. Juli wurde der leitende Ermittler vorsorglich erneut geladen.
APOTHEKE ADHOC Debatte