„Die Franzosen wären längst auf der Straße“ Silvia Meixner, 02.07.2018 14:46 Uhr
Im Ortenaukreis in Baden-Württemberg geht die Angst um: Kleinere Kliniken sollen geschlossen werden, die Menschen sehen hilflos zu. Sie befürchten längere Anfahrtswege und im Notfall Extremsituationen. Ein Apotheker kämpft ganz vorne mit. Christian Weber von den Rohan-Apotheken kritisiert die Arroganz der Politiker und befürchtet eine massive Gefährdung der Grundversorgung.
„In meiner Apotheke spreche ich täglich mit Kunden, die Angst haben“, sagt er. Angst davor, Verwandte und Freunde im Krankenhaus nicht mehr besuchen zu können – weil es geschlossen wird und das nächste dann zu weit entfernt liegt. Angst davor, selbst eines Tages als Notfall vielleicht nicht rechtzeitig behandelt zu werden, weil die Anfahrtswege künftig länger werden. Der Ortenaukreis ist flächenmäßig der größte Landkreis in Baden-Württemberg, rund 100.000 Menschen sind betroffen.
Die Angst im Ortenaukreis hat einen Namen: „Agenda 2030“. Die Pläne sind knallhart. Der Krankenhausausschuss hat am 12. Juni diesen Jahres mit deutlicher Mehrheit die Durchsetzung dieser Agenda für das Ortenau Klinikum beschlossen. Klinikneubauten soll es in Offenburg und in Achern geben. Erhalten werden sollen die Krankenhäuser in Lahr und in Wolfach. Ab dem Jahr 2030 sollen die Standorte Kehl, Oberkirch und Ettenheim aufgegeben werden. Die Schließung des Gengenbacher Krankenhauses ist bereits im vergangenen Jahr vom Kreistag beschlossen worden.
„Die Versorgung wird viel schlechter, die Entfernungen werden größer. Es gibt zum Beispiel in Lahr jetzt schon Flurbetten. Bei einem Schlaganfall oder Herzinfarkt zählen Minuten“, sagt Weber. Und fügt kämpferisch hinzu: „In Frankreich wären die Menschen längst auf der Straße.“
In Baden-Württemberg organisieren sie sich online, haben die Website „Klinik-Initiative Leben“ gegründet. Apotheker Weber ist einer der aktivsten Mitstreiter, mobilisiert Interessierte auch via Facebook. Ist er ein Mann für die Politik? „Ich wurde schon mehrfach gefragt, ob ich für den Gemeinderat kandidieren möchte, habe aber immer abgelehnt.“ In den vier Apotheken des Familienunternehmens in Ettenheim, Seelbach, Oberkirch und Kehl gibt es genug zu tun.
Weber erklärt: „Die Schließung einiger kleinerer Krankenhäuser ist seit 20 Jahren im Gespräch. Akut wurde es aber erst im vergangenen Jahr.“ Den Politikern wirft er vor, „mit falschen Karten“ gespielt zu haben. „Das demokratische Verhalten, das hier gezeigt wird, ist echt grenzwertig.“ Zu einer Podiumsdiskussion in der vergangenen Woche in Ettenheim kamen 400 besorgte Bürger. „Der Landrat saß oben, das Volk unten, es wirkte bedrohlich. Es gibt keine faire Diskussion, Fachargumente zählen nicht.“ Alles sei beschlossene Sache. Die endgültige Entscheidung, wann das Ettenheimer Klinikum geschlossen werden soll, fällt am 24. Juli. Dass es geschlossen wird, steht fest.
Die Lahrer Zeitung berichtete nach der Podiumsdiskussion: „Pfiffe, Buhrufe und Gelächter: Die Ettenheimer haben ihren Standpunkt zur Agenda 2030 in der Stadthalle lautstark erklingen lassen.“ Und weiter: „Helmut Rau, Sprecher der Klinik-Initiative, redet Klartext: ‚Ich hatte nicht den Eindruck, dass sich das Podium ein Bild davon machen wollte, wie die Leute denken.‘”
Eine Umfrage, die die Patientenzufriedenheit belegen soll, ist – entgegen der Aussage des Klinik-Geschäftsführers – nicht auf der Website zu finden. Angeblich, weil sie nur zur internen Nutzung zugänglich sein soll. Die Lahrer Zeitung hat eine Kopie, die besagt, dass das Ettenheimer Klinikum kreisweit in den meisten Kategorien am besten abschneidet. Aussagen von Geschäftsführer Christian Keller und Landrat Frank Scherer, wie etwa „Patientenwohl vor Rendite“ oder „Mensch und Versorgung stehen im Vordergrund“, quittierte das Publikum mit Pfiffen und Buhrufen.
Die Politik macht den besorgten Bürgern keine Hoffnung. Bereits im Januar 2017 verkündete Baden-Württembergs Sozialminister Manfred Lucha (Grüne), dass er die Schließung von Krankenhäusern in den kommenden Jahren für „unumgänglich“ halte. Es werde einen „Konzentrationsprozess hin zu größeren und leistungsfähigeren Einheiten“ geben, sagte er damals der Stuttgarter Zeitung. Dem Bericht zufolge gibt es derzeit noch rund 250 Klinikstandorte im Südwesten. „Es könnte sein, dass wir irgendwann bei 200 landen werden“, sagte Lucha.
Die Mittel aus dem Krankenhausstrukturfonds des Bundes müssten so eingesetzt werden, dass Kapazitäten gebündelt und leistungsstärkere Angebote möglich gemacht würden. Unterstützung bekam er schon im vergangenen Jahr von der AOK: „Die Gelder müssen zwingend in zukunftsorientierte Projekte wie zum Beispiel in den Abbau unsinniger Doppelstrukturen investiert werden“, sagte Vorstandschef Dr. Christopher Hermann. Auch Verbesserungen wie neue OP-Säle und eine aus Kliniksicht optimierte Patientenversorgung vermögen die aufgebrachten Bürger nicht zu beruhigen.
Die nächste Informationsveranstaltung zum Verbleib der Klinikstandorte in Kehl, Oberkirch, Wolfach findet am 4. Juli in der Stadthalle Lahr statt. Dort gibt es 680 Sitzplätze – 280 mehr als bei der letzten Versammlung.