Nächste Posse im Verfahren um die Datenaffäre des Bundesgesundheitsministeriums (BMG): Die Polizei hat selbstständig Daten gelöscht und nach Aufforderung des Gerichts – bewusst oder nicht – noch so viel Zeit verstreichen lassen, dass diese jetzt nicht mehr wiederhergestellt werden können. Die Verteidiger der beiden Angeklagten Thomas Bellartz und Christoph H. vermuten Absicht und forderten erneut die Einstellung des Verfahrens. Doch das Landgericht Berlin lehnt dies ab.
Dem ehemaligen IT-Mitarbeiter des BMG wird unter anderem vorgeworfen, dass er interne Dokumente aus dem Ministerium gestohlen und an Bellartz verkauft haben soll. Zu den eigentlichen Tatvorwürfen wurde auch am 21. Verhandlungstag nichts vorgebracht. Stattdessen wurde wieder darüber verhandelt, warum sich Polizei und Staatsanwaltschaft so intensiv mit dem BMG ausgetauscht haben und warum möglicherweise entscheidende Dokumente nicht in die Akte gelangt sind.
Die Verteidiger beider Angeklagten kritisierten, dass die Polizei womöglich absichtlich Zeit verstreichen ließ, damit von den Ermittlern gelöschte Daten nicht wieder hergestellt werden können. Eine merkwürdige Figur liefert dabei vor allem der leitende Ermittler der Berliner Polizei ab, der am Donnerstag erneut geladen ist. Er war bereits bei seiner ersten Vernehmung vom Gericht aufgefordert worden, sämtliche fehlenden Dokumente nachzureichen.
Dennoch habe er nach diesem Termin die Chuzpe besessen, weitere Mails zu löschen, kritisierte der H.s Verteidiger Nikolai Venn. „Doch die Entgleisungen der polizeilichen Ermittler waren noch steigerungsfähig“, so der Anwalt. Das Landeskriminalamt (LKA) habe sich extra Zeit gelassen, bis die am 26. Juni gelöschten E-Mails nicht mehr wiederherstellbar waren.
Denn eine Nachfrage des Vorsitzenden Richters beim LKA hat ergeben, dass E-Mails dort nur 35 Tage gespeichert werden, bevor das Back-up überschrieben wird. Selbstverständlich lassen sich damit die vom leitenden Ermittler gelöschten E-Mails aus den Jahren 2012 bis 2014 nicht mehr retten. Dasselbe gilt für Mails, die der Ermittler am 17. April – nach seiner ersten gerichtlichen Vernehmung – noch gelöscht hatte, was von der Verteidigung scharf kritisiert wird.
Auch Bellartz‘ Anwalt, Professor Dr. Carsten Wegner, monierte, dass die Berliner Polizei nach der Anfrage des Gerichts nach den zuletzt gelöschten Mails wiederum drei Wochen verstreichen ließ, sodass dem „mehrfach überführten Datendompteur“ in den eigenen Reihen nichts mehr nachzuweisen sei. „Alles sehr trickreich, und ein Schelm, wer Böses dabei denkt“, so Wegner. Er forderte erneut, das Verfahren durch Prozessurteil einzustellen.
Venn ging noch weiter: Es bestehe der Anfangsverdacht einer strafbaren Datenveränderung. Denn die Polizei habe schon seit Anklageerhebung keine alleinige Verfügensbefugnis mehr gehabt, spätestens aber nach der Aufforderung der Richter. Er gehe davon aus, dass der Staatsanwalt ein Strafverfahren in der Sache einleiten werde. Der machte allerdings nicht den Eindruck, hier aktiv werden zu wollen.
Eine Einstellung des Verfahrens oder Aussetzung der Hauptverhandlung ist aus Sicht des Staatsanwalts jedenfalls nicht angezeigt. Nach längerer Beratung lehnte auch das Gericht die entsprechenden Anträge der Verteidigung ab. Zwar hätten die Ermittler die Maßstäbe bei der Bewertung, was den Angeklagten und dem Gericht hätte zur Verfügung gestellt werden müssen, verschiedentlich verkannt. Dies könne generell die „Wahrheitsfindung erschweren“, so der Vorsitzende Richter.
Insgesamt sieht das Gericht die Versäumnisse der Polizei aber nicht als so gravierend an, dass sie das gesamte Verfahren unzulässig machen würden. Das wäre laut Bundesgerichtshof (BGH) sogar bei einer Manipulation der Akte nicht zwangsläufig gegeben. Dem leitenden Ermittler wurde auch kein böser Wille unterstellt, das Fehlen der Dokumente „dürfte auf Nachlässigkeit beruhen“, so der Richter. Und es sei mit Blick auf das bisher aufgetauchte Material auch nicht zu erwarten, dass der Ermittler wichtige Details gelöscht habe, weil sie ihm „unagenehm“ oder „heikel“ seien. Diese Annahme wurde vom Gericht nicht näher begründet.
Wegner hatte beantragt, das Verfahren gegen seinen Mandanten abzutrennen und mit Freispruch einzustellen. Denn Beweise für eine Beteiligung an einen mutmaßlichen Datendiebstahl gibt es aus Sicht des Verteidigers nicht. Das Gericht lehnte aber auch diesen Antrag ab, da weitere Beweiserhebungen nötig seien.
Wegner erwiderte, dass aus den zwischenzeitlich beschafften Dokumenten hervorgehe, dass die bei Bellartz beschlagnahmten Geräte von der Polizei ausgewertet wurden. Darauf sei aber nichts gefunden – jedenfalls stehe nichts dazu in der Anklage. Er wundert sich auch über den Einfluss, den das BMG offenbar auf das Verfahren genommen hat. Er zitierte aus einer Korrespondenz der Ermittler, wonach die Staatsanwaltschaft E-Mails aus dem Ministerium erst bekommen sollte, nachdem das BMG diese für „unbedenklich“ erklärt habe. „Hat das BMG Einfluss auf die Zusammenstellung der Verfahrensakte genommen?“, fragt sich Wegner. Dazu passt, dass das BMG die Ermittler 2013 zu einem Gespräch über den Ermittlungsstand eingeladen hatte.
Die Verteidiger werten nach und nach E-Mails aus, die nur zufällig durch ein versehentliches Ausplaudern des Ermittlers vor Gericht bekannt wurden. In einer berichtet die Polizei an die Staatsanwaltschaft über die Vernehmung eines BMG-Mitarbeiters. Dieser hatte mitgeteilt, dass APOTHEKE ADHOC bereits zwei Stunden nach Versand einer Staatssekretärsvorlage über das Thema berichtet hatte. Das schloss aber selbst aus Sicht der Ermittler die These aus, wonach der angeklagte IT-Mitarbeiter die Daten kopiert und an Bellartz verkauft haben soll, damit dieser sie an APOTHEKE ADHOC weitergibt. Die Mail mit diesem Hinweis wurde wiederum nicht zu den Akten genommen.
Am kommenden Donnerstag soll erneut verhandelt werden, dann muss der Chefermittler zum vierten Mal vor Gericht erscheinen. Bis dahin müssen sich die Richter mit einer weiteren, möglicherweise brisanten Frage befassen: Wegner zufolge gibt es die in der Anklage zitierte Strafvorschrift des Bundesdatenschutzgesetzes (BDSG) nach Inkrafttreten der EU-Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) Ende Mai überhaupt nicht mehr. Diesen Hinweis hatte er dem Gericht auch schon nach dem vorherigen Verhandlungstermin vor knapp drei Wochen gegeben. Aber der Richter ist noch nicht dazu gekommen: „Da war ich ja so gut wie schon im Urlaub“, sagte er. Und der Staatsanwalt will sich erst dazu äußern, wenn er vom Gericht befragt wird. Fortsetzung folgt.
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