Apothekerpräsenz als Grundrecht

Di Fabio zu Light-Apotheken: „Karl Lauterbach dürfte die Risiken kennen“

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Professor Dr. Dr. Udo Di Fabio im Video-Interview.Foto: FnG/Uni Bonn
Berlin -

Gibt es ein Grundrecht auf die Anwesenheit einer Apothekerin oder eines Apothekers in der Apotheke? Möglicherweise, sagt Professor Dr. Udo Di Fabio, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, im Video-Interview mit APOTHEKE ADHOC. Denn der Schutz von Leib und Leben – auch im Zusammenhang mit der Gesundheits- und Arzneimittelversorgung – sei ein Verfassungsauftrag. Statt sich mit Pseudo-Apotheken aus der Verantwortung zu ziehen, sei der Staat verpflichtet, für auskömmliche Rahmenbedingungen zu sorgen, damit Apotheken die Patientinnen und Patienten so versorgen könnten, wie es von ihnen erwartet werde.

Di Fabio hat sich in einem Gutachten für die Abda mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Präsenzpflicht ein „alter Zopf“ ist, den man abschneiden kann, oder ob es triftige Gründe dafür gibt. Seinen Überlegungen liegt das Primat zugrunde, dass Grundrechte nicht nur die Freiheit des Einzelnen sichern sollen, sondern zugleich den Gesetzgeber verpflichten, insbesondere für ein ausreichendes Schutzniveau zu sorgen, damit diese Freiheit auch gelebt werden kann.

Als Patient habe ich einen Anspruch darauf, Arzneimittel nur aus versierter Hand zu bekommen. Das Entscheidende ist, dass in der Apotheke jemand ist, der wirklich etwas davon versteht.

Dass die Präsenz einer Apothekerin oder eines Apothekers in der Apotheke den Schutz der Gesundheit gewährleisten kann, ist laut Di Fabio höchstrichterlich anerkannt, sowohl vom Bundesverfassungsgericht als auch vom Europäischen Gerichtshof (EuGH). Zwar müsse man dem Gesetzgeber einen Gestaltungsspielraum zugestehen, er dürfe dabei aber das Schutzziel „nicht ersichtlich verfehlen“.

„Die Präsenz ist so zentral, dass man sie vielleicht lockern, aber nicht gänzlich ersetzen kann“, so Di Fabio. „Und damit meine ich im Prinzip die physische Präsenz. Denn auch moderne Lösungen führen nicht daran vorbei, dass die pharmazeutische Abgabe durch eine Person erfolgen muss, die Verantwortung übernimmt – und zwar eben nicht nur auf dem Papier.“

Ende der Liberalisierungseuphorie

Dies gelte umso mehr, da es für den Betrieb von Apotheken bereits einige Lockerungen gegeben habe. „Wir sind 2004 sehr weit gegangen“, sagt er mit Blick auf die Zulassung von Filialen und Versandhandel. Damals habe es eine regelrechte „Liberalisierungseuphorie“ gegeben, das Leitbild des mündigen Verbrauchers sei seinerzeit prägend gewesen.

Aber heute sehe die Welt ganz anders aus: „Wir haben eine alternde Bevölkerung und wir sehen eine tendenzielle Überforderung der ärztlichen Versorgung.“ Niemand wolle mit dem Beipackzettel alleine gelassen werden. „Die Beratung in der Apotheke und auch das komplementäre Eingreifen bei möglichen Problemen sind wichtiger geworden.“ Di Fabio verweist auch auf die „Opioid-Seuche“ in den USA oder den Hype um Abnehmspritzen – aus seiner Sicht sind das Belege dafür, dass auch das Berufsethos eine hohe Bedeutung habe.

Die Apotheker werden wichtiger und auch ihre Präsenz wird wichtiger.

Dass im Versandhandel im Endeffekt andere Standards gelten, lässt Di Fabio als Argument nicht gelten: „Ich bin kein Freund des Versandhandels, man muss ihn kritisch beobachten und gegebenenfalls limitieren oder auch ganz verbieten.“ Sofern sich tatsächlich negative Auswirkungen auf die Versorgung abzeichneten, sei ein Einschreiten durchaus gerechtfertigt: „Der EuGH ist sehr vorsichtig und räumt den Mitgliedstaaten großen Spielraum ein, welches Schutzniveau sie für das Gesundheitswesen gewährleisten wollen.“

Keine faulen Kompromisse

Was ist mit der Argumentation von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD), seine Lockerungen brächten den Apotheken mehr Möglichkeiten und sicherten so die Versorgung? Stichwort: Lieber eine abgespeckte als gar keine Apotheke vor Ort. Viel zu kurz gegriffen, findet Di Fabio: „Der Staat kann nichts für die Demographie, aber er kann aufgrund seiner Preisaufsicht ganz erheblichen Einfluss nehmen. Wenn Karl Lauterbach einen Konflikt sieht, würde ich ihm raten, die Rentabilitätsbedingungen zu verbessern, damit sich das Studium und die Investitionen in eine Apotheke lohnen.“

Anders ausgedrückt: „Wenn der Staat die Rahmenbedingungen für die Apotheken verschlechtert, darf er sich nicht wundern, wenn er am Ende faule Kompromisse machen muss, die zu Lasten der Qualität gehen.“ Das aber sei mit dem Schutzanspruch nicht in Einklang zu bringen.

Um Geld zu sparen, darf der Staat nicht die Qualität der Arzneimittelversorgung reduzieren.

Di Fabio räumt ein, dass man auch im Gesundheitswesen auf die Wirtschaftlichkeit schauen müsse. „Aber wir müssen uns im Klaren sein, dass wir uns die ärztliche und auch die Arzneimittelversorgung etwas kosten lassen müssen, wenn sie auf dem derzeitigen Niveau bleiben soll.“

Meine Sorge ist, dass solche Kompromisse, wie sie jetzt geplant sind, auf eine abschüssige Bahn führen.

Di Fabio warnt vor einer „Kaskade der Entpersönlichung“, die auch das Gesundheitswesen zu erfassen drohe. „Es gibt überall den Trend, die persönliche Verantwortung zurückzufahren. Auf dem Papier wird zwar am Prinzip noch festgehalten, aber eine echte Präsenz oder Verantwortungsübernahme vor Ort gibt es nicht.“

Der Verfassungsrechtler rät daher im Apothekenbereich zur besonderen Vorsicht: „Wir haben die Präsenzpflicht durch die Filialisierung ja bereits deutlich gelockert. Im Zweifel bekommen wir ein System, mit dem wir nicht mehr imstande sind, das Schutzniveau zu erreichen.“

Beide Seiten könnten klagen

Sollte Lauterbach seine Pläne durchsetzen, könnte die Sache juristisch geklärt werden. „Für Gerichte ist es sehr schwer zu bestimmen, welches Schutzniveau erforderlich ist und wann Maßnahmen des Gesetzgebers eingeschränkt werden müssen. Aber es ist möglich.“

Aus seiner Sicht könnten Patientinnen und Patienten die für sie relevante Frage klären lassen: „Warum finde ich in der Apotheke keinen Apotheker? Wo ist meine Beratung geblieben? Dann könnte ich eine Verfehlung des Schutzniveaus reklamieren.“

Aber auch die Apothekerinnen und Apotheker selbst könnten sich mit juristischen Mitteln wehren. „Denn sie halten ja offensichtlich dieses Leitbild nach ihrem Berufsverständnis, nach ihrem Berufsethos für geboten, um das zu erfüllen, was sie in Ausübung ihrer Berufsfreiheit erreichen wollen. Da reden wir nicht von einem Schutzanspruch.“

Ein Vergleich: Wenn ein Jurist als Anwalt tätig sei, habe er auch eine bestimmte Vorstellung davon, wie man rechstreu berate und er seine Arbeit persönlich verantworten wolle. Wenn der Gesetzgeber dann komme und dies in Frage stelle, weil ja auch die Bürovorsteherin beraten könne, habe man ein ganz ähnliches Problem. „Bei allen staatlich gebundenen Berufen muss man beachten, dass diesem Leitbild genügt werden kann.“

Konkurrenz statt Qualität

Laut Di Fabio könnte man sonst einen Eingriff in die Berufsfreiheit sehen: „Es würde eine Konkurrenz eröffnet, die es denjenigen, die freiwillig an der Präsenz festhalten wollen, unmöglich macht, rentabel im Wettbewerb zu bestehen, und damit wäre die Berufsfreiheit über den Gleichheitsgesichtspunkt eingeschränkt.“

Spannend ist die Diskussion aus seiner Sicht auch deshalb, weil das Thema der Knappheit sich derzeit durch die gesamte Gesellschaft zieht. Daher müsse man offen diskutieren, welches Niveau man aufrechterhalten wolle.

Ich weiß nicht, was Karl Lauterbach plant, aber er dürfte die Risiken kennen.

Er würde erwarten, dass die Diskussion auf diesem Rationalitätsniveau geführt werde. „Gesundheit kostet, und ich muss investieren, wenn ich weiter eine Versorgung durch qualifizierte Anbieter haben will.“

Vorsicht statt Nachsehen

Würde mit der Light- oder Pseudoapotheke automatisch das Fremdbesitzverbot wackeln? Laut Di Fabio besteht durchaus das Risiko, dass solche Lockerungen zu „Anstoßeffeken“ führen. „Welche Risiken eine solche weitreichende Liberalisierung mit sich bringt, müsste man erst einmal genau ermitteln.“ Ein Vergleich mit anderen Märkten, in denen solche Modelle bereits bestünden, sei schon wegen der Datenlage oftmals schwierig. Er würde daher genau umgekehrt argumentieren:

Ein System, das bewährt ist, das funktioniert, das sollte man nicht ohne Not preisgeben.

„Das klingt konservativ, aber es ist eben ein lebensweltlicher Erfahrungssatz.“ Laut Di Fabio gelte es, das Gute zu bewahren und das Neue offen aufzunehmen, etwa was die Digitalisierung und andere technische Hilfsmittel angehe. „Dazu werden moderne Apothekerinnen und Apotheker bereit sein, und dazu möchte ich sie ausdrücklich ermuntern.“ Aber zu glauben, dass man mit einer KI die apothekerliche Fachkompetenz ersetzen könne, sei falsch: Davon sei man noch weit entfernt, wenn man überhaupt je dahin komme.

Gibt es also ein Grundrecht darauf, in der Apotheke durch eine Apothekerin oder einen Apotheker beraten zu werden? „Nach dem Vorangesagten kann man das nicht ausschließen. Es gibt natürlich nicht ein so konkretisiertes Grundrecht, aber es gibt ein Grundrecht auf eine staatlich geordnete, funktionsfähige Gesundheitsversorgung. Es kann sein, dass dazu auch die Präsenzberatung, der persönliche Kontakt gehört, wie immer der im Einzelfall ausgestaltet ist.“

Udo Di Fabio war von 1999 bis 2011 Richter am Bundesverfassungsgericht, heute ist er Direktor des Instituts für Öffentliches Recht (Abteilung Staatsrecht) an der Universität Bonn und Gründungsdirektor des Forschungskollegs normative Gesellschaftsgrundlagen (FnG).

 

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