Die Mutationen von Sars-CoV-2, die in den vergangenen Wochen in Großbritannien und Südafrika aufgetreten sind, bereiten weltweit große Sorgen. Insbesondere die britische Variante B.1.1.7 scheint sich bedeutend schneller auszubreiten als die bisherigen Varianten. Umso wichtiger ist eine möglichst engmaschige Überwachung, die in Deutschland nicht gegeben ist. Recherchen mehrerer Medien zufolge hatten Experten Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) noch kurz vor Beginn der Covid-19-Pandemie aufgefordert, die Grundlagen dafür zu schaffen. Doch der ignorierte sie. Erst am Montag hat das Bundesgesundheitsministerium (BMG) eine entsprechende Verordnung in die Kabinettsabstimmung gebracht.
Es wirkt im Nachhinein wie eine schaurige Vorhersage: Am 19. November, kurz vor Beginn der Covid-19-Pandemie, wandten sich die Gesellschaft für Virologie und die Deutsche Gesellschaft für Hygiene und Mikrobiologie gemeinsam mit einem dringenden Schreiben an Spahn. Darin warnten die Verfasser, dass bei einem möglichen Ausbruchsgeschehen „die Möglichkeiten der molekularen Surveillance“ fehlen würden, weil „ein beträchtlicher Teil der aktuell berufenen Expertenlabore seine Aufgaben nicht mehr erfüllen kann“, so das Schreiben, das NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung (SZ) vorliegt. Die Forderung der Virologen und Mikrobiologen war eindeutig: Ein „ministerielles Eingreifen“ Spahns sei angesichts der Lage „unausweichlich geworden“.
Der Missstand war demnach klar zu verorten: Es gab kein Geld. Zwar werde an vielen Universitäten sequenziert, allerdings nur in bescheidenem Ausmaß, weil die Arbeit nicht finanziert werde. „Die finanzielle Ausstattung vieler Nationaler Referenzzentren und Konsiliarlabore durch das Bundesgesundheitsministerium ist seit vielen Jahren völlig unzureichend, intransparent und erfolgt auf stereotype Weise durch Pauschalbeträge“, so das Schreiben. So könnten notwendige Untersuchungen „nicht abgerechnet werden und unterbleiben daher in vielen Fällen“.
Laut NDR, WDR und SZ hat Spahn das Schreiben der Virologen allerdings im Wesentlichen ignoriert. Dem BMG zufolge habe das Ministerium zwar der Gesellschaft für Hygiene geantwortet, ein Gespräch mit den Fachgesellschaften sei aber bis heute nicht zustande gekommen. Laut Virologe Professor Dr. Hendrick Streeck können die Kosten für eine einzelne Sequenzierung bei entsprechender Anzahl auf etwa 50 Euro gedrückt werden und damit ungefähr so viel betragen, wie die Krankenversicherungen pro PCR-Test erstatten. Gescheitert sei eine umfassende Surveillance bisher daran, dass die Labore dafür kein oder kein ausreichendes Budget erhalten haben. So sei beispielsweise am Berliner Konsiliarlabor von Professor Dr. Christian Drosten das Sequenzierungsbudget in Höhe von 10.000 Euro für das Jahr 2020 bereits Ende Januar aufgebraucht gewesen.
Die Folgen sind in den vergangenen Wochen klar zu sehen: Während in Großbritannien im Schnitt jede 15. Sars-CoV-2-Probe sequenziert wird, ist es in Deutschland gerade einmal jede 900. Probe. „Wir sequenzieren ohne repräsentative Probenerfassung auf dem Niveau eines Entwicklungslandes“, zitiert die ARD den Leiter der Virologie der Universität Freiburg, Professor Dr. Hartmut Hengel. Wäre die neue Mutation in Deutschland ausgebrochen, hätte demnach viel Zeit vergehen können, ohne dass sie bemerkt worden wäre. „Wir sind in Deutschland, was die molekulare Überwachung des Coronavirus angeht, wirklich miserabel“, so Hengel. Er rechnet mit 100 bis 150 Euro pro Sequenzierung. Es sei dringend geboten, „dass Herr Spahn die molekulare Surveillance in Deutschland ans Laufen bringt“.
Am Montag hat das Bundesgesundheitsministerium deshalb angesichts der neuen Virusmutationen einen Verordnungsentwurf vorgelegt, der das in Zukunft ermöglichen soll. Labore sollen Sequenzierungsergebnisse demnach künftig an das Robert Koch-Institut (RKI) übermitteln müssen, wo sie dann mit Datenbanken abgeglichen werden. Dafür sollen die Labore eine Vergütung bekommen, die aus dem Bundeshaushalt bezahlt wird.
Die Verordnung sieht vor, dass Labore, die solche Analysen vornehmen, pro gemeldeter Genomsequenz 200 Euro als Vergütung bekommen sollen. Je nach Infektionsgeschehen in Deutschland soll die Vergütung für bis zu 5 oder bis zu 10 Prozent der positiven Proben gezahlt werden. Wie es im Entwurf heißt, seien diese Anteile laut RKI geeignet, das Pandemiegeschehen umfassend auf molekularer Ebene zu überwachen und mögliche Maßnahmen zu ergreifen.
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