Brandbrief

Arzneimittelversorgung verkommt zu Logistikprozess

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Berlin -

In Hessen haben die Apotheken in der vergangenen Woche gegen die Pläne des Bundesgesundheitsministeriums protestiert. Kai Christiansen, Präsident der Apothekerkammer Schleswig-Holstein, will die Politik mit Argumenten überzeugen und hat einen Brandbrief an den Ministerpräsidenten, Bundestags- und Landtagsabgeordnete sowie Landräte und Oberbürgermeister des Bundeslandes geschickt. Die Reformpläne leiten einen Systemwechsel in der Arzneimittelversorgung ein. Leistungskürzungen und Qualitätseinbußen sind die Folgen, so Christiansen. Zudem werden 40.000 angestellte Apotheker:innen arbeitslos. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) schafft die Apotheken ab. „Eine einmal zerstörte Struktur kann nicht wiederbelebt werden.“

Apotheke ohne Approbierte

Erfahrene PTA sollen auch ohne Anwesenheit eines Approbierten die Apotheke öffnen und betreiben dürfen, wenn der Inhaber mindestens acht Stunden in der Woche in der Apotheke anwesend ist und per Telepharmazie ein Approbierter hinzugezogen werden kann. Außerdem sollen auch Filialen mit einem Abstand von rund 300 km – entsprechend bis zu drei Stunden Fahrtzeit eröffnet werden dürfen. „Unter solchen Bedingungen findet de facto keine persönliche Leitung der Apotheke durch eine Apothekerin oder einen Apotheker mehr statt“, schreibt Christiansen. Ist kein Approbierter dauerhaft vor Ort, sind Kontrollfunktion und Beratungsleistung nicht mehr realisierbar. Daran ändere auch die Kontaktaufnahme per Videoschaltung nichts.

Der Kammerpräsident sieht die Patienten- und die Arzneimitteltherapiesicherheit „massiv gefährdet“. Die Arzneimittelversorgung werde trivialisiert und „zu einem bloßen Handel ohne Verknüpfung einer qualifizierten pharmazeutischen Beratung gemacht.“ Zudem könne der eigentliche Beratungsbedarf der Patient:innen in vielen Fällen nicht erkannt.

Christiansen fürchtet zudem Leistungskürzungen. Denn ist kein Approbierter vor Ort, können nicht alle Services erbracht werden. Patient:innen können in der Zeit nicht mit Betäubungsmitteln versorgt oder geimpft werden, Medikationsanalysen können nicht durchgeführt und keine Rezepturen hergestellt werden.

„Die apothekerlose Apotheke gepaart mit der zu erwartenden Kündigungswelle bei Apothekerinnen und Apothekern werden allerdings dazu führen, dass die erst kürzlich eingeführten Apotheken-Impfungen wieder drastisch zurückgehen“, so Christiansen. Das gelte auch für die pharmazeutischen Dienstleistungen (pDL).

Lücken in der Versorgung

Der Entwurf sieht Kürzungen der Öffnungszeiten vor. Würde die dauerhafte Dienstbereitschaft der Apotheken abgeschafft, entstehen zusätzlich Lücken in der Versorgung, so Christiansen.

Zerstörung eines Berufsbildes

Der freie Heilberuf des Apothekers wird zum bloßen Gewerbetreibenden degradiert und Patient:innen kompetente und unabhängige Ansprechpartner:innen entzogen, warnt der Kammerpräsident. „Die Apothekeninhaber sind im Versorgungsbild des Bundesgesundheitsministeriums keine freien Heilberufler mehr.“

Inhaber:innen stehen unter enormem Kosten- und Wettbewerbsdruck. Die Folge: Kündigungen. Denn das BMG hat bei seinen Reformplänen nur die Kostenseite berücksichtigt. „Die Kostenreduktion in den Apotheken will das BMG also durch eine massive Kündigungswelle erkaufen“, so Christiansen. „Die Wegnahme der pharmazeutischen Kompetenz aus den Apothekenbetrieben wird dazu führen, dass die Apotheken vom kompetenten Gesundheitsdienstleister zur reinen Abgabestelle für Arzneimittel degradiert werden.“

Die hochwertige Arzneimittelversorgung werde zugunsten der Ökonomisierung geopfert, weil Inhaber:innen ihre Betriebsstätten maximal wirtschaftlich optimieren müssen. Das Ministerium missachtet den Wert der Tätigkeit der Apotheker:innen.

Radikaler Systemwechsel

„Die Arzneimittelversorgung verkommt zum reinen Logistikprozess. Pharmazeutische Expertise und Kompetenzen spielen bei der Abgabe keine Rolle mehr“, mahnt Christiansen. „Die BMG-Reform ist im Ergebnis nur eine vorbereitende Maßnahme für weitere systembrechende und die Versorgung bagatellisierende Regelungen, die in den kommenden Jahren folgen.“

Versorgungsmodelle aus anderen Ländern haben hier offenbar als Vorbild gedient: „Das Wort ‚Apotheke‘ wird dort nur noch für einen Gemischtwarenladen verwendet, in dem in der hintersten Verkaufsecke eine ‚Prescription Corner‘ Arzneimittelverordnungen entgegennimmt.“ Zudem warnt der Kammerpräsident vor der Automatisierung. „Die mittelständische Struktur der Apotheken samt ihrer 160.000 Arbeitsplätze geht verloren. Bis zur Aufhebung des Fremdbesitzverbotes ist es dann nur noch ein kleiner Schritt.“ Große, international agierende Konzerne werden die Versorgung zukünftig steuern. „Die neutrale, unabhängige Versorgung durch unabhängige und freie Heilberufe vor Ort findet dann nicht mehr statt.“

Umverteilung stärkt Apotheken nicht

Frisches Geld gibt es für die Apotheken nicht. Stattdessen soll umverteilt werden, und zwar kostenneutral für Bund und Kassen. Das Fixum soll in den kommen Jahren auf 9 Euro angehoben und der prozentuale Anteil von 3 auf 3 Prozent abgesenkt werden. Die Maßnahme werde die Resilienz des Apothekennetzes nicht stärken, sondern eher schwächen.

Dabei ist die Sicherung der Arzneimittelversorgung in der Fläche das Ziel der Reformpläne. Doch für Christiansen ist schon der Ansatz des Ministeriums fehlgeleitet. Der Grund: Nicht nur die die Apotheken in ländlichen Regionen leiden unter dem wirtschaftlichen Druck. Ganz im Gegenteil: „Die nahversorgenden Kiezapotheken waren von der Schließungswelle der vergangenen Jahre sogar besonders schwer betroffen.“ So liegt beispielsweise die Apothekenzahl je 100.000 Einwohner in Berlin mit 19 deutlich unter dem Bundesdurchschnitt, im Berliner Bezirk Lichtenberg liegt die Apothekendichte sogar nur bei 14.

Das sind die Alternativen

  • mehr Entscheidungskompetenzen für Apotheker:innen – insbesondere bei Lieferproblemen
  • Anspruch der Patient:innen auf interprofessionelles Medikationsmanagement nach ARMIN
  • mehr Telepharmazie aus der Apotheke zum Patienten
  • assistierte Telemedizin
  • Erweiterung der pharmazeutischen und präventiven Dienstleistungen, mehr Möglichkeiten der Primärversorgung in der Apotheke

„Das sind nur einige Themen, die auf dem derzeit bestehenden Versorgungssystem der heilberuflich geführten Apotheken aufbauen, dieses aber auch als Grundlage zwingend benötigen“, so Christiansen.

Das Fazit

Das systemrelevante und wohnortnahe Apothekennetzwerk zu zerschneiden, beseitigt die Resilienz und die Sicherheit der Arzneimittelversorgung. „Durch diese Maßnahme werden 40.000 angestellte Apothekerinnen und Apotheker arbeitslos.“ Christiansen bittet die Politiker:innen um ein Gespräch. „Wir brauchen Ihre Unterstützung, um das qualitativ hochwertige, hocheffiziente System der Arzneimittelversorgung der Bevölkerung durch die inhabergeführte Apotheke-vor-Ort zu sichern und den Menschen weiterhin in den Mittelpunkt unseres heilberuflichen Handelns stellen zu können.“

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