Am 31. März endet die Begleiterhebung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zur Anwendung von medizinischem Cannabis in Deutschland. Die Kritik daran reißt nicht ab, Experten bemängeln das Studiendesign und kritisieren mangelnde Aussagekraft. Das Start-up Copeia, das Apotheker, Ärzte und Patienten in der Therapie unterstützt, will dem etwas entgegensetzen und hat seine eigene Begleiterhebung gestartet. 50 Apotheken beteiligen sich daran.
Das im März 2017 in Kraft getretene Gesetz zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften – besser bekannt als Cannabis-als-Medizin-Gesetz – hatte das BfArM beauftragt, eine nicht-interventionelle Begleiterhebung zur Anwendung von Cannabisarzneimitteln durchzuführen. Die Ärzte übermitteln dem BfArM dafür die erforderlichen Daten in anonymisierter Form. Die werden dann erstmals nach einem Jahr Therapie mit einem Cannabisarzneimittel erhoben oder nach Beendigung der Therapie, wenn dieser Zeitpunkt vor Ablauf eines Jahres liegt. Die Ergebnisse der Begleiterhebung werden mit Spannung erwartet, schließlich sollen die Erkenntnisse in die Weiterentwicklung der Versorgung mit medizinischem Cannabis einfließen – unter anderem sollen sie die Grundlage dafür bilden, in welchen Indikationen Cannabis erstattungsfähig bleibt.
Dass sie dafür taugen, wird jedoch von Fachleuten bezweifelt. „Das ist eine historische Chance, die wir da vergeben haben. Alle Experten sind sich einig, dass das Design der Begleiterhebung die entscheidenden Fragen nicht beantwortet“, sagt beispielsweise Jan P. Witte, ehemaliger Medical Director von Aphria Deutschland und der Sanity Group, mittlerweile freier Experte für medizinisches Cannabis. „Die Daten entsprechen nicht dem Standard, der notwendig wäre, um eine Bewertung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss durchzuführen.“
So gäbe es keine Kontrollmechanismen zu Rücklauf und Vollständigkeit der erhobenen Daten – was deren Repräsentativität und Genauigkeit kritisch verringere. „Der Bias in den Daten kann nicht einmal benannt werden“, sagt Witte. So wisse niemand, wie viele Ärzte die Begleiterhebung ausgefüllt haben und wie viele nicht. Auch unvollständige und fehlerhafte Datensätze könnten aufgrund der Anonymisierung nicht zurückverfolgt werden. „Wenn ich in einer Studie fünf Fragen nicht beantwortet bekomme, dann wende ich mich eigentlich an den Arzt und frage, was es damit auf sich hat. Das ist hier nicht möglich. Allein daran sieht man, dass diese Daten nichts aussagen.“
Es sei aufgrund des Studiendesigns durchaus davon auszugehen, dass es einen erheblichen Bias gibt: Besonders, dass die Daten nach einem Jahr Therapie oder aber dem Studienabbruch übermittelt werden, ohne dass man zurückverfolgen könnte, zu vielen und welchen angefangenen Therapien sie vorliegen, verzerre die Repräsentativität enorm. Einfacher ausgedrückt: „Kaum ein Arzt denkt daran, ein Jahr nach Therapiebeginn pünktlich die Begleiterhebung für einen Patienten auszufüllen. Im Zweifelsfall macht er es nicht“, so der Internist Witte, der selbst in der Vergangenheit in einem Berliner Krankenhaus Patienten mit Cannabis behandelt hat. „Wenn aber eine Cannabistherapie endet oder abgebrochen wird, denkt man viel eher daran, zum Abschluss auch die Begleiterhebung auszufüllen.“ Deshalb sei offensichtlich, dass überproportional viele Therapieabbrüche in der Begleiterhebung dargestellt werden – wie sehr überproportional das Verhältnis ist, weiß man mangels Rückverfolgbarkeit aber gar nicht. „Man kann den Bias nicht einmal berechnen“, so Witte.
Hinzu komme der Genehmigungsvorbehalt der Krankenkassen, bei dem manche Indikationen restriktiver gehandhabt würden als andere. „Diese Studie wird nicht ausagen, bei welchen Indikationen Cannabinoidmedizin funktioniert und bei welchen nicht“, ist sich Witte sicher. „Die Daten kann man politisch deuten, wissenschaftlich sind sie aber nicht. Wir haben viele kleine Studien weltweit, die uns beim Verschreiben mehr Sicherheit geben als die Begleiterhebung. Sie hat nicht den wissenschaftlichen Standard, um Rückschlüsse über Erfolg und Misserfolg in bestimmten Indikationen zu geben.“
Eine solche kleine Studie will Copeia nun beisteuern. Das Start-up, an dem neben Geschäftsführer Garvin Hirt auch Tobias Loder, Inhaber der auf Cannabis-Versorgung spezialisierten Kölner Apotheke Lux99, beteiligt ist, hat ein Portal entwickelt, das Apotheker, Ärzte und Patienten unterstützen will, indem es alle therapierelevanten Informationen in einer Anwendung bündelt. Copeia teilt die Kritik an der offiziellen Begleiterhebung: Bei Betrachtung der erhobenen und in ersten Zwischenberichten publizierten Daten werde ersichtlich, dass nicht alle Patienten, deren Therapie durch eine gesetzliche Krankenkasse getragen wird, erfasst werden. So seien vorrangig Daten von Patienten mit einer Therapie mit dem teil-synthetischen Cannabisderivat Dronabinol erhoben worden. Diese Zahlen wiederum würden aber eine Diskrepanz zu den vom GKV-Spitzenverband veröffentlichen Verordnungszahlen von Cannabisarzneimitteln aufweisen, die einen deutlich höheren Anteil von Patienten mit einer Therapie mit Cannabisblüten und Cannabisextrakte belegen.
„Dementsprechend liegen für den Therapieverlauf mit Cannabisblüten und -Extrakten deutlich weniger Daten vor“, so Copeia. Die Begleiterhebung umfasse auch kaum Angaben zum Verlauf der Symptome oder der Dosierung einzelner Cannabisarzneimittel. Auch würden nur Daten von Kassenpatienten erfasst – Angaben von Selbstzahlern, inklusive Privatversicherter, werden hingegen nicht berücksichtigt. Die machen aber laut der bisherigen Copeia-Daten 53 Prozent der Patienten aus. Vergleicht man die Daten von Copeia mit denen der GKV aus dem September 2021 und publizierten Zwischenergebnissen der Begleiterhebung aus dem Oktober 2021, werden die Abweichungen deutlich: Demnach betrug der Anteil an Cannabis-Patienten, die Blüten anwenden, laut GKV 32 Prozent, laut Copeia – das Privatpatienten und Selbstzahler mit einschließt – hingegen 76 Prozent. Laut BfArM sind es gerade einmal 18 Prozent. Dafür verwenden laut BfArM 65 Prozent der Patienten Dronabinol, laut GKV ist der Anteil mit 35 Prozent nur gut halb groß. Bei Copeia hingegen macht Dronabinol nur 7 Prozent aus.
Gemeinsam mit einem Netzwerk an Verbänden und Unternehmen, das von Patientenorganisationen über ärztliches Personal bis zu Herstellern, Großhändlern und Apotheken reicht, will Copeia nun Daten generieren, die brauchbarer sind als die des BfArM – und ebenjenen Verbänden später als Argumentationsgrundlage dienen. Durch den Verband der Cannabis versorgenden Apotheken (VCA) wird die Befragung deutschlandweit von mehr als 50 spezialisierten Apotheken unterstützt.
Patienten sollen über das Netzwerk auf die Studie aufmerksam gemacht werden und Informationsflyer mit einem QR-Code erhalten, der direkt zur Befragung führt. Über ein interaktives Chatbot-Protokoll werden sie dann durch die einzelnen Fragen geführt. Dabei sollen unter anderem Daten zu Beschwerdebild, Indikation sowie Symptomen, Nebenwirkungen und Auswirkung auf die Lebensqualität, Wirkstoffkonzentration, Verabreichungsform und tägliche Dosierung der Cannabisarzneimittel, Dauer und Verlauf der Dosierung, Alter und Geschlecht sowie Kostenträger erhoben werden. Die bundesweite Befragung zum Therapieverlauf startete am 17. Januar und endet am 30. April. Die erhobenen Daten sollen anschließend wissenschaftlich validiert und veröffentlicht werden, federführend ist der Facharzt für Anästhesiologe Dr. André Ihlenfeld – Copeias Medical Director. Den Anspruch erheben, die BfArM-Begleiterhebung zu ersetzen, kann Copeia mangels eigener Repräsentativität sicherlich nicht. Das Unternehmen betont stattdessen selbst, dass es die bereits erhobenen Erkenntnisse zu medizinischer Cannabistherapie deutlich ergänzen will, konkret durch indikationsspezifische Muster, Zusammenhänge zwischen Symptomverlauf und Dosierung sowie Schweregrad der Nebenwirkungen unter der Therapie.
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