AOK retaxiert 15 Millionen – Apotheker gehen nach Karlsruhe Alexander Müller, 23.02.2016 10:12 Uhr
Nach ihrem Sieg vor dem Bundessozialgericht (BSG) hat die AOK Hessen ihre Forderungen geltend gemacht und im Januar angekündigt, weitere 15 Millionen Euro abzuziehen. Doch die retaxierten Zyto-Apotheker geben sich noch nicht geschlagen: Der im Ausgangsverfahren betroffene Kollege zieht vor das Bundesverfassungsgericht. Dazu hat er sich jetzt nach Vorlage der Urteilsgründe entschieden.
Die AOK Hessen hatte 2013 die Versorgung mit parenteralen Zytostatika-Zubereitungen ausgeschrieben und exklusive Verträge mit zwölf Apotheken geschlossen. Wer ohne Vertrag weiterhin Patienten versorgte, wurde retaxiert. Rainer Schüler, Inhaber der Fliederberg-Apotheke in Darmstadt, ist einer der betroffenen Apotheker. Trotz schriftlicher Bestätigung der Patienten, dass sie weiterhin auf diesem Weg versorgt werden möchten, blieb die AOK bei der Absetzung.
Die Sache ging vor Gericht. Allein im Dezember 2013 hatte er 149 Rezepte für 38 Versicherte beliefert, die Retaxationen summierten sich auf rund 70.500 Euro. Während des Verfahrens hatte man sich darauf verständigt, dass die AOK den Betrag zunächst wieder auszahlt und dann jeden dritten Monat retaxiert.
Das Sozialgericht Darmstadt (SG) hatte noch zu Gunsten des Apothekers entschieden. Doch im Revisionsverfahren vor dem BSG setzte sich die Kasse durch: Am 25. November 2015 wiesen die Kasseler Richter Schülers Klage ab und erklärten die Retaxationen der AOK für zulässig. Laut der Urteilsbegründung haben Versicherte in der Krebsversorgung – vergleichbar mit einem stationären Krankenhausaufenthalt – gar kein Recht auf freie Apothekenwahl. Der Arzt bestelle die Sterilrezepturen auch ansonsten direkt bei einer Apotheke. Weil der Gesetzgeber Verträge in diesem Bereich explizit zugelassen habe, durfte die Kasse diese laut Gericht auch mit Nachdruck durchsetzen.
Schüler hatte sich auf die freie Apothekenwahl seiner Patienten berufen. Zudem hatte er ein Schreiben seiner Aufsichtsbehörde vorgelegt: Das Regierungspräsidium Darmstadt hatte auf Anfrage mitgeteilt, dass er zu Belieferung von Kassenrezepten verpflichtet sei. Die Landesapothekerkammer Hessen (LAK) ging in ihrer Stellungnahme ebenfalls von einer Lieferpflicht auf Grund des Kontrahierungszwangs aus und fürchtete bei Zuwiderhandeln das Risiko einer Zwangsfestsetzung durch die Überwachungsbehörde.
Das BSG sieht das anders: Mit der Möglichkeit von Exklusivverträgen habe der Gesetzgeber den Ausschluss anderer Apotheken „bewusst in Kauf genommen“. Apotheken ohne Vertrag würden „notwendig von der Leistungserbringung zu Lasten der vertragsschließenden Krankenkasse ausgeschlossen“, Recht und Pflicht zur Leistungserbringung entfielen. Diese Konsequenz ist laut BSG unausweichlich mit der Zulassung von Einzelverträgen verbunden. Solche Exklusivverträge seien übrigens in anderen Gebieten gängig.
Von dieser Argumentation zeigen sich Schülers Anwälte in ihrer Stellungnahme zum Urteil „irritiert“: Der Gesetzgeber habe mit der Zulassung der Verträge in der Gesetzesbegründung das Recht der Versicherten zur freien Apothekenwahl ausdrücklich bestätigt, schreiben Dr. Ulrich Grau und Dr. Constanze Püschel von der Kanzlei Dierks und Bohle. Selbst die AOK Hessen habe in den Bewerbungsbedingungen ihrer Ausschreibung auf das Apothekenwahlrecht hingewiesen.
Auch das BSG hat die Passage aus der Bundestagsdrucksache zitiert – interpretiert sie aber anders: Der Hinweis auf das Recht auf freie Apothekenwahl könne nur so verstanden werden, „dass dieses Wahlrecht durch die Regelung gar nicht erst berührt wird“. Immerhin sieht das Apothekengesetz (ApoG) laut BSG im Zyto-Bereich eine Ausnahme des Abspracheverbots zwischen Arzt und Apotheke vor. Hintergrund sind demnach die besonderen Anforderungen der Herstellung sowie die Tatsache, dass die Zubereitungen dem Patienten nicht persönlich in der Apotheke ausgehändigt werden.
Es wäre dem Arzt laut Urteilsbegründung nicht zuzumuten, die Verantwortung für die Behandlung zu übernehmen, „wenn er nicht die vollständige Kontrolle über den Beschaffungsweg, die zwischenzeitlichen Lagerungsbedingungen, einschließlich der Zugriffsmöglichkeiten und des Zeitablaufs hat“. Gemäß der erlaubten Absprache wähle daher gerade nicht der Versicherte, sondern der Arzt die Apotheke aus. „Zu dieser Absprache bedarf es weder der Zustimmung des Versicherten, noch kann dieser die Versorgung durch eine andere Apotheke wählen“, so das BSG.
Die Kasseler Richter stellen erneut das Wirtschaftlichkeitsgebot an oberste Stelle. Der für die Kasse günstigere Einzelvertrag könne seine Wirkung nur entfalten, wenn zumindest eine gewisse Exklusivität garantiert sei. Denn ansonsten gäbe es keine Anreize, ein Gebot abzugeben. Da sich prinzipiell jeder Apotheker unter den gegebenen Kriterien an der Ausschreibung konnte, sieht das BSG auch keine verfassungsrechtlich bedenkliche Einschnitte in die Berufsfreiheit. Das Grundgesetz gewähre „keinen Anspruch auf unveränderte Wettbewerbsbedingungen und Marktverhältnisse“.
Damit war auch die Nullretaxation aus Sicht des BSG angemessen. Der Apotheker habe keinen Anspruch auf Erstattung der „Sowiesokosten“ der Krankenkasse – also Zahlung zumindest des rabattierten Preises. Nach ständiger Rechtsprechung des BSG gebe es keinen Anspruch des Apothekers aus ungerechtfertigter Bereicherung. Das BVerfG habe ebenfalls keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen Nullretaxationen gesehen.
Dem Wirtschaftlichkeitsgebot werde regelmäßig Vorrang vor dem Versichertenwahlrecht eingeräumt, so das BSG. Als Beispiel nennen die Richter Hilfsmittelverträge, die Arzneimittelversorgung in Krankenhäusern oder von der Kasse ausgewählte Reha-Maßnahmen. Wünscht der Versicherte etwas anderes, sei dies regelmäßig nur über Mehrkosten möglich. In dem besonderen Fall einer Direktbelieferung des Onkologen sei ein berechtigtes Interesse des Versicherten an einer freien Apothekenwahl zudem nicht erkennbar. „Vielmehr ist der anwendende Arzt zur Absprache mit der Apotheke berechtigt, sodass in diesem Zusammenhang den Versicherten ohnehin kein Wahlrecht zukommt“, so die Urteilsbegründung.
Das BSG sieht sogar einen Berufsrechtsverstoß der Onkologen: Diese hätten ihren Patienten Formulare vorgelegt, mit denen diese die Wahl der Apotheke vorformuliert erklärten. Eine solche Einflussnahme auf die vermeintlich freie Wahl der Apotheke habe der Bundesgerichtshof (BGH) bereits verboten.
Den Kontrahierungszwang gemäß Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO) auf der anderen Seite sieht das BSG ebenfalls nicht als Hindernis. „Denn das SGB V geht als förmliches Bundesgesetz der als Rechtsverordnung erlassenen ApBetrO grundsätzlich vor.“ Der Kontrahierungszwang bestehe ohnehin erst, wenn alle gesetzlichen und vertraglichen Voraussetzungen für die Abgabe erfüllt seien. Zwar müsse der Apotheker nicht von sich aus prüfen, ob die Kasse Exklusivverträge geschlossen habe. In diesem Fall habe die AOK Hessen die Apotheker aber explizit informiert und damit den Kontrahierungszwang aufgehoben – sowie die Grundlage für Retaxationen geschaffen.
Die Anwälte Grau und Püschel finden es dagegen „erstaunlich, dass die bloße Information der Krankenkasse über das Bestehen eines Selektivvertrags ausreiche, um den in der ApBetrO normierten Kontrahierungszwang außer Kraft zu setzen“. Das BSG verkenne das Dilemma, in dem sich die Apotheker ohne Vertrag befunden hätten. Die Hinweise des Regierungspräsidiums blende das Gericht völlig aus.
Laut BSG durfte sich der Apotheker weder auf das Schreiben seiner Kammer noch der Aufsichtsbehörde verlassen. Die Kammer habe darauf verwiesen, dass sie die Ausschreibungsunterlagen nicht kenne und daher nur unverbindlich antworten könne. Im Schreiben des RP werde lediglich auf die grundsätzliche Pflicht der Apotheken zur Belieferung von Rezepten eingegangen. Aus Sicht des Gerichts sind die Apotheker nach der Ankündigung der AOK daher „sehenden Auges“ das Risiko der Nullretaxation eingegangen.
Dass das BSG die Retaxationen für „zumutbar“ hält, finden Grau und Püschel angesichts der 15 Millionen Euro, die allein im Januar angekündigt wurden, eine „abenteuerliche Aussage“. Die Argumentation habe man indes so erwartet: „Da die Auffassung des BSG juristisch schwerlich zu begründen ist, war nach der mündlichen Verhandlung ein in dieser Form 'politisches' Urteil zu erwarten. An manchen Stellen sind die Ausführungen schlicht falsch“, so die Anwälte. Die Verfassungsbeschwerde soll Verfassungsrechtler Professor Dr. Thorsten Kingreen von der Universität Regensburg führen.
Schüler hatte auch Sicherheitsbedenken gegen die Ausschreibung: Er selbst könne innerhalb von 30 Minuten ausliefern und so kurzfristige Änderungen berücksichtigen. Dass der Arzt nach der Blutuntersuchung die Dosierung adaptiere, komme in knapp 20 Prozent der Fälle vor. Die Vertragsapotheke der AOK in Mannheim liege 50 Kilometer von der Praxis entfernt. Beispielsweise beim Wirkstoff Mephalan sollte die Dauer zwischen Herstellung und Beendigung der Infusion laut Fachinformation aber nicht länger als 1,5 Stunden betragen. Schüler sah die Therapiesicherheit in Gefahr. Die Versorgung vor Ort sei für die Kasse wegen des Wegfalls von Stornierungen zudem mit einer „Einsparquote“ von 18 Prozent verbunden.
Doch das BSG folgte auch hier der AOK in der Annahme, dass dies in der Praxis unbedeutend sei. Bei einer Versorgung nach Therapieplan spiele die Entfernung der Vertragsapotheke von der Arztpraxis keine wesentliche Rolle. Bei „ad hoc“-Belieferungen im Einzelfall müsse die Vertragsapotheke innerhalb von 45 Minuten liefern. Unvorhergesehene Lieferschwierigkeiten könnten jede Apotheke treffen. Unter welchen Umständen eine Apotheke ohne Vertrag dann einspringen darf, hatte das BSG nach eigenem Bekunden nicht zu entscheiden.
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