Eine neue Impfkampagne könnte bevorstehen, diesmal für die Booster-Impfungen. Erst passierte lange fast nichts, dann wird mit Hochdruck an einer Lösung gerungen, wenn es schon fast zu spät ist. Bundes- und Landesregierungen machen dieselben Fehler, die sie seit Beginn der Pandemie immer und immer wieder gemacht haben. Das Problem ist nicht spezifisch für die Coronakrise, doch sie verdeutlicht wie im Brennglas, welche strukturellen Politikfehler ihm zugrunde liegen, kommentiert Tobias Lau.
Wolfgang Schäuble hat in der jüngeren Vergangenheit so einiges getan, um seinem Ruf als graue Eminenz der CDU zu schaden: Vom Parteivorsitz bis zur Kanzlerkandidatur hat er gleich dreimal hintereinander aufs falsche Pferd gesetzt. Seinen Posten als Bundestagspräsident ist er auch deshalb – also wegen der Wahlniederlage von Armin Laschet – los. Bei der konstituierenden Sitzung des Bundestages hat er zuletzt gezeigt, dass ihm sein Instinkt offenbar nicht nur in Personalfragen abhandengekommen ist: „Wer Ziele und Mittel absolut setzt, bringt sie gegen das demokratische Prinzip in Stellung“, erklärte er dort in seiner Eröffnungsrede explizit mit Blick auf wissenschaftliche Erkenntnisse zum Klimawandel und der Corona-Pandemie. Er stellt damit wissenschaftliche Fakten in Gegensatz zur demokratischen Willensbildung. Bei vielen Themen sind mehr oder weniger harte Fakten und die daraus folgende politische Gestaltung durchaus Verhandlungssache – die Gänze, in der Schäuble wissenschaftliche Erkenntnis aber gerade bei diesen beiden genannten Themen relativiert, offenbart aber, woran die Bundesregierung in der Corona-Krise allzu oft gescheitert ist.
Vieles war absehbar in den vergangenen anderthalb Jahren. Wissenschaftler haben bereits im infektionsarmen Sommer 2020 explizite Prognosen für eine zweite Welle getroffen, die dann auch genau so eingetreten sind. Doch die Bundes- und Landesregierungen haben aus politischen Abwägungen heraus lange, viel zu lange, gezögert, notwendige Schritte einzuleiten. Die Folgen sind bekannt. Dieses Scheitern, bekannte Fakten aus politischer Rücksichtnahme in konkretes Handeln umzusetzen, zeigt sich nun an anderer Stelle erneut: Deutschland steht im Moment – trotz der Impfkampagne – gemessen an Infektionszahlen deutlich schlechter da als heute vor einem Jahr. Und das Virus schlägt wieder besonders dort zu, wo die Verwundbarsten sitzen: Bad Doberan, Barnim und Osthofen sind nur drei Fälle aus den vergangenen Tagen, bei denen Corona-Ausbrüche in Altenheimen wütete. 37 Todesfälle waren bisher allein in den drei genannten Heimen zu beklagen.
Dabei waren fast alle Senioren dort gegen Covid-19 geimpft. Gerade bei ihren Immunsystemen nimmt der Impfschutz aber mit der Zeit besonders stark wieder ab. Das Extrembeispiel zeigt im Kleinen, woran es mittlerweile im Großen mangelt: Booster-Impfungen vor allem für besonders gefährdete Menschengruppen. Und das ist alles andere als eine Überraschung. Schritt für Schritt wurde der Weg für die Auffrischungsimpfungen bereitet – nur in aktives Handeln umgesetzt wurde fast nichts. Man muss selbst kein Wissenschaftler sein, um die die Empfehlungen mit der Realität abzugleichen: Ein halbes Jahr nach der Zweitimpfung wird die Auffrischung empfohlen. Alte und Vorerkrankte wurden zuerst geimpft, zu Jahresbeginn und im Frühjahr. Wann sollten sie ihre Auffrischungsimpfungen also erhalten? Genau jetzt, wenn nicht schon vor Wochen oder Monaten.
Das ist, wie beschrieben, seit langem bekannt. Statt zu handeln, um dem absehbaren Bedarf zur richtigen Zeit zu begegnen, passierte jedoch weiterhin so gut wie nichts. Am vergangenen Wochenende dann nahm das Thema plötzlich Fahrt auf: Noch-Gesundheitsminister Jens Spahn empfiehlt Booster-Impfungen und betont, dass sie jedermann offenstehen. Den Hausärzteverband verärgert das mit Blick auf die Stiko-Empfehlungen. Die Stiko meldet sich zu Wort. Spahn fordert einen Bund-Länder-Gipfel zu Booster-Impfungen. Manche Länderschefs sind dafür, andere dagegen. Gesundheitspolitiker verschiedener Parteien schalten sich ein, auch Apotheken werden ins Spiel gebracht. Plötzlich sieht der Beschlussentwurf der Gesundheitsministerkonferenz vor, dass die gerade erst geschlossenen Impfzentren nun doch wieder öffnen sollen, um eine Booster-Impfkampagne stemmen zu können.
Man konnte all das, was jetzt gefordert wird, schon lange antizipiert, die notwendigen Regelungen getroffen, die benötigten Strukturen aufgebaut haben. Doch die Bundes- und Landesregierung taten wie schon im vergangenen Jahr so lange nichts, bis die Not akut wurde. Und nun, da es so weit ist, folgt das politische Hin und Her, das laut Schäuble Vorfahrt vor wissenschaftlicher Erkenntnis haben sollte. Die demokratische Willensbildung ist dabei nicht das Problem, im Gegenteil: Sie ist die Lösung. Das Problem ist, dass Politikerinnen und Politiker Opportunitäten und Interessenabwägungen auch dort vor harte Fakten stellen, wo es eigentlich einen klaren Handlungsauftrag gibt. Das ist nicht überall gleichermaßen problematisch – wenn es konkret um Menschenleben geht, aber schon. Denn so wie sich die Erdatmosphäre nicht durch industriepolitische Befindlichkeiten von ihrer Erwärmung abbringen lässt, nimmt auch ein Atemwegsvirus keine Rücksicht auf politische Abwägungen.
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