Wie weit kann man Apotheken durch Light-Filialen ersetzen? Mit welchen Widerständen ist zu rechnen – und wie setzt man eine Liberalisierung trotzdem durch? Mit diesen Fragen beschäftigte sich schon vor 15 Jahren eine Ökonomin, die heute als leitende Beamtin im Bundesgesundheitsministerium (BMG) tätig ist. Die Arbeit liest sich wie eine Blaupause für die Reformpläne von Karl Lauterbach (SPD). Denn Lockerungen für den Betrieb von Apotheken sind aus ihrer Sicht eine Voraussetzung für die komplette Liberalisierung des Marktes.
Die Dissertation aus dem Jahr 2009 trägt den Titel „Reformen am Apothekenmarkt: Eine ordnungspolitische und polit-ökonomische Analyse“ und stammt von Sonja Optendrenk. Von Hause aus Volkswirtin, hatte die heute 52-Jährige die Gesundheitsreformen von Ulla Schmidt (SPD) aus nächster Nähe verfolgt – erst als Ökonomin im Gesundheitsministerium, ab 2005 als Referentin im Bundeskanzleramt. Optendrenk gehört auf Beamtenebene zu den bekanntesten und profiliertesten Köpfen in der Gesundheitspolitik: Im Kanzleramt war sie Referatsleiterin für das Thema, im BMG sogar Abteilungsleiterin. Heute kümmert sie sich um den Bereich Prävention, sie ist die Schwester des nordhrein-westfälischen Finanzministers Dr. Marcus Optendrenk.
Ihre Arbeitsthese: Der Apothekenmarkt ist überreguliert und ineffizient. Auch die Deregulierungen Anfang der 2000er Jahre seien „unvollständig“ geblieben und hätten teilweise „nicht zweckmäßige Lösungen“ generiert. Aufbauend auf den Reformideen der Sachverständigen – zitiert werden immer wieder Ökonomen wie Justus Haucap oder Johann-Matthias Graf von der Schulenburg, die sich zu jener Zeit unter dem Eindruck der DocMorris-Debatte für eine Liberalisierung ausgesprochen hatten – hat es sich die Autorin mit ihrer Arbeit zur Aufgabe gemacht, Vorschläge für eine „sinnvolle Reform des Apothekenmarktes“ zu machen.
Aus ihrer Sicht wäre eine komplette Freigabe des Marktes angezeigt – mit Fremd- und Mehrbesitz, freien Rx-Preisen und auch einer Reduzierung der Anforderungen an den Apothekenbetrieb. Denn, so Optendrenks Argumentation: „Die Finanzierbarkeit des Arzneimittelvertriebs ist zwar aktuell noch gesichert. Allerdings stellt sich die Frage nach der Effizienz der Versorgung. Die Preisregulierung, die die flächendeckende Versorgung in Deutschland sicherstellt, führt zu der Frage, ob die Arzneimittelversorgung effizient erfolgt.“ Bei zu hohen Zuschlägen könnte der Vertrieb insgesamt zu teuer sein, was sich in hohen Renditen der einzelnen Apotheken und einer zu hohen Apothekendichte niederschlage: „Angesichts der hohen deutschen Apothekendichte kann man eher davon ausgehen, dass tendenziell regulatorisch induzierte Überversorgung besteht, die erst durch die relativ hohen Vergütungszuschläge ermöglicht wird.“
Die Abschaffung des Fremdbesitzverbots sieht Optendrenk als „wesentliches Element zur Schaffung von mehr Effizienz“. Denn in Ketten als „Betrieben mit optimaler Betriebsgröße“ könnten „Skalenerträge“ erwirtschaftet werden. „Die Befürchtung der Apotheker, dass sich die Qualität der Arzneimittelversorgung durch Apotheken im Fremdbesitz im Vergleich zur Versorgung durch einen ‚Apotheker in seiner Apotheke‘ verschlechtern würde, wird hier nicht geteilt“, so Optdendrenk. Denn der Blick auf andere Branchen zeige, dass die Qualitätssicherung in Filial- oder Franchisesystemen einen hohen Stellenwert einnehme. „Dies ist unter anderem damit begründet, dass schlechte Qualität in einer Filiale automatisch Rückwirkungen auf andere Filialen hat, die unter der gleichen Marke oder dem gleichen Namen firmieren.“
Schon 2009 kam Optendrenk in ihrer Arbeit zu dem Schluss, dass die Vorgaben hinsichtlich Ausstattung und Räumlichkeiten überarbeitet werden sollen: „Die Anforderungen an Laborleistungen bei den Apotheken sind heute im Vergleich zu früher wesentlich reduziert. Der Umfang der Herstellung von Rezepturarzneimitteln in Apotheken ist deutlich gesunken. Hauptaufgabe im Labor ist die stichprobenmäßige Überprüfung der gelieferten Arzneimittel und Rohstoffe auf ihre Qualität. Diese Leistungen können im Verbund mehrerer Apotheken wesentlich preisgünstiger erstellt werden. Eine Vereinbarung über die Erbringung von Leistungen durch eine andere Apotheke sollte dann Bestandteil der Betriebserlaubnis sein.“
Auch die räumliche Mindestgröße könnte nach ihrer Ansicht abgesenkt werden, sofern bestimmte Anforderungen erfüllt würden. Zur Disposition stehen sollte auch die Vorgabe, dass Apotheken räumlich von anderen Geschäften abgetrennt sein müssen. Vielmehr genüge es, wenn deutlich werde, dass es sich um die Abgabe von besonderen Gütern handele und dass räumliche Bedingungen für die diskrete Beratung erfüllt würden.
Selbst zur Filialleitung durch Approbierte macht sie kritische Andeutungen, da dadurch die Personalkosten zu hoch sein könnten. „Dies ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass angestellte Apotheker als Filialleiter weniger motiviert sind, über die vertragliche Arbeitszeit hinaus zu arbeiten, als dies von einem selbstständigen Apotheker aber im wohlverstandenen Eigeninteresse getan wird. Daher kann eine Filiale im Hinblick auf die Personalkosten teurer sein als die Hauptapotheke, auch wenn sie in der Regel noch einen positiven Gewinnbeitrag zum Gesamtunternehmen beisteuert.“
Nur in der Kombination machten diese Maßnahmen Sinn, so Optendrenk: Um die erhofften Effizienzreserven durch Zulassung von Apothekenketten tatsächlich heben zu können, sei es erforderlich, auch die anderen Regulierungen aufzuheben beziehungsweise zu lockern: Denn Wirtschaftlichkeitsreserven ließen sich nur erschließen, wenn ein großer Anteil der Kosten als vom Umsatz unabhängige Fixkosten anfallen würde. „Absatzsteigerungen würden dann zu einem sinkenden Anteil von Fixkosten an den Gesamtkosten führen. Abhängig von der Struktur der variablen Kosten wären dann Gewinnsteigerungen möglich.“
Solange die Anforderungen an die Apotheken hinsichtlich Räumen, Personal und Ausstattung nicht geändert würden, sei eine Senkung des Fixkostenanteils in nennenswertem Umfang für die Apotheken nicht zu erreichen, so Optendrenk. Die Übertragung der Regelungen der Hauptapotheke auf die Filialapotheken – „Räume, Labor, pharmazeutisches Personal etc.“ – lasse wenig Spielraum für die Reduzierung der Fixkosten je Apotheke.
Würden all diese Hindernisse aus dem Weg geräumt, könnte die Versorgung wettbewerblicher und damit wirtschaftlicher werden. „Dann könnten größere Apothekenketten auch bei geringeren Handelsspannen die flächendeckende Versorgung sicherstellen, weil sie aufgrund der erwirtschafteten Skalenerträge – Einkaufsmacht, flexibler Personaleinsatz, Verringerung der Fixkosten pro Stück durch Zentralisierung von Leistungen etc. – auch in ländlichen Gebieten rentabel sein könnten, wo eine Einzelapotheke nicht mehr wirtschaftlich wäre.“
Und was, wenn sich die Ketten dann doch nur auf lukrative Standorte fokussieren würden? „Das ‚Schreckgespenst‘ des Verlustes der flächendeckenden Versorgung geht allerdings immer noch in Deutschland um“, kommentiert Optendrenk diese Position, die aus ihrer Sicht nicht zu halten ist. Einerseits bestehe bereits heute eine Tendenz dazu, Apotheken an attraktiven Standorten mit zusätzlicher Laufkundschaft wie in Einkaufszentren zu errichten. „Dies erfolgt unabhängig von der Zulassung von Fremdbesitz oder reduzierten Anforderungen an die Apothekenräume.“
Andererseits gebe es eine Vielzahl von „Rückfallpositionen für den Fall, dass die dann politisch gewünschte Erreichbarkeit von Apotheken nicht mehr gewährleistet sein sollte“. Mit diesen könnten „Versorgungsengpässe reduziert werden und gleichzeitig neue Vertriebsformen auf ihre Qualität und Sicherheit beziehungsweise Akzeptanz in der Bevölkerung überprüft werden“, so Optendrenk.
Einen Nachweis, dass eine solche komplette Liberalisierung zu den behaupteten Einsparungen oder Verbesserungen für die Versorgung führt, bleibt Optendrenk nicht nur schuldig – sie tritt ihn gar nicht erst an. Denn wie der Titel ihrer Arbeit verrät, ging es eher vielmehr um die politische Strategie für ein solches Reformvorhaben.
Hauptstörfaktor bei solchen Liberalisierungsvorhaben ist aus ihrer Sicht die Apothekerlobby: „Viele Regulierungen sind historisch gewachsen und werden von den Begünstigten über die Jahrhunderte erfolgreich verteidigt.“
Der politische Entscheidungsprozess biete vielfältige Ansatzpunkte für „Interventionen zugunsten bestimmter gut organisierter Gruppen“. Reformvorhaben würden frühzeitig von Interessengruppen kritisch begleitet und im Rahmen der Prozesse politischer Willensbildung in den Parteien und unter Einflussnahme von Interessengruppen verändert. „Als Folge dieses Prozesses kommen Reformen oftmals nur unvollständig zustande oder sind wegen der politisch erforderlichen Kompromisse ökonomisch wenig zweckmäßig.“
Genau dies sei etwa beim GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) passiert, mit dem zwar erstmals Schritte unternommen worden seien, eine Deregulierung des deutschen Apothekenmarktes einzuleiten. Da die vorgeschlagenen Maßnahmen – wie die Liberalisierung des Apothekenbesitzes und der Apothekenvergütung – aber nicht vollständig umgesetzt worden seien, sei die Zielsetzung, die Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln zu Iiberalisieren und wettbewerblicher zu gestalten, um so Einsparungen für die Gesetzliche Krankenversicherung und die Patienten zu ermöglichen, nicht erreicht worden.
Die Veränderung der Rahmenbedingungen eröffne in einigen Bereichen Möglichkeiten für Effizienzsteigerungen in der Arzneimittelversorgung der Bevölkerung, so Optendrenk. Insgesamt lasse sich also eine leicht höhere Dynamik auf dem Apothekenmarkt feststellen. „Allerdings verhindern andere bestehende oder nur unzureichend aufgehobene Regulierungen, dass die Instrumente ihre Wirkung voll entfalten können.“ Insofern hätten die Reformen „kein ökonomisch stimmiges Konzept“ ergeben: „Einige Reformelemente bleiben unvollständig oder blockieren gar die Intentionen und die Wirksamkeit anderer Reformschritte.“
Dies sei darauf zurückzuführen, dass zwischen den Verhandlungspartnern in der Gesundheitspolitik Uneinigkeit über das Ausmaß der angestrebten Deregulierung bestand. „Entweder wurden die Deregulierungsschritte grundsätzlich von politisch maßgeblichen Teilen der Verantwortlichen abgelehnt oder es war Ziel, die Wirkungen in einer abgemilderten Form zuerst einmal zu erproben. Dies ist unter anderem auf die geringen Winsets der Parteien zurückzuführen. Die Vetospieler haben also ihre jeweiligen Möglichkeiten genutzt, um Teile ihrer Positionen durchzusetzen.“
Akribisch listet Optendrenk die verschiedenen Entwürfe und Positionen auf, teilt die Interessengruppen auf in die Lager „Pro“ und „Contra“. Die Befürworter seien zwar mit SPD, Grünen, Krankenkassen und vielen Sachverständigen in der deutlichen Überzahl gewesen. „Ihnen standen allerdings die CDU/CSU und die Apotheker gegenüber, die die bestehenden Regelungen verteidigten. Bei dieser Konstellation war eine Einigung auf eine der Positionen unwahrscheinlich.“ Herausgekommen sei „aus rein ökonomischer Perspektive ein unbefriedigender Kompromiss zwischen zwei vollständig gegenläufigen Auffassungen über die Struktur des Apothekenmarktes“.
Dennoch war die Autorin schon 2009 überzeugt, dass es weitere Reformschritte hin zu einer kompletten Liberalisierung geben würde, denn der Status quo sei womöglich nur ein „Übergangsstadium zu einer weitergehenden Deregulierung“.
Für die Apothekerinnen und Apotheker seien die Ergebnisse der Reformen Anfang der 2000er Jahre nur ein „Erfolg auf Zeit“, so Optendrenk. „Die Debatte über die vollständige Deregulierung wird zeitlich verschoben, sie ist allerdings eingeleitet.“
Insbesondere die Regelung zum Mehrbesitz sei „voraussichtlich eine instabile Zwischenlösung“, denn sie führe „zwangsläufig zu der Grundsatzfrage, ob ein Unterschied zwischen dem Betrieb von zwei Apotheken oder zehn Apotheken besteht“. Optendrenk: „Die Diskussion in Richtung grundsätzlicher Öffnung des Mehrbesitzes ist eröffnet, was die Verfechter des Mehrbesitzverbotes verhindern wollten.“
Offen sei, ob und wann „die Akteure überzeugt werden, die begonnenen Reformen fortzuführen, und sich als Konsequenz weitere Reformen mit höherem Zielerreichungsgrad ergeben“. Bis zum Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) habe „die parteipolitische Unterstützung für den Erhalt der inhabergeführten Apotheke und damit des Mehr-und Fremdbesitzverbotes als Maßstab für die Arzneimittelversorgung in Deutschland deutlich abgenommen“. Danach habe es einen Rückfall in alte Muster gegeben.
Die Umsetzung der Liberalisierung sei „aufgrund des hohen Einflusses der Interessengruppen – insbesondere der Apothekerschaft – auf die öffentliche und politische Meinungsbildung“ bereits bei den letzten Reformen schwierig gewesen. „Auch aus diesem Grund blieben die Deregulierungsmaßnahmen hinter dem zurück, was für eine Steigerung der Wirtschaftlichkeit der Arzneimittelversorgung erforderlich wäre: die Abschaffung des Mehr- und Fremdbesitzverbotes bei Apotheken, eine Deregulierung der Preisbildungsvorschriften und eine Anpassung der Anforderungen an die Betriebsräume der Apotheken.“
„Auch für die Zukunft sind hier kritische Diskussionen und intensiver Widerstand der Interessengruppen und der von ihnen organisierten Bevölkerungsgruppen sowie Politikern zu erwarten, die die Umsetzung weiterer Reformschritte erschweren.“
Aber: „Bei weiter steigenden Arzneimittelausgaben wird auch zukünftig der Arzneimittelvertriebsweg wieder in den Fokus der Politik geraten. Erst dann wird sich zeigen, welchen Stellenwert die Politik der inhabergeführten Apotheke zumisst.“
Optendrenks Fazit: „Die vorliegende Analyse hat gezeigt, dass eine neue Debatte über die Deregulierung des Arzneimittelvertriebsweges zwar nicht sofort, aber in Zukunft zu erwarten ist. Für diesen Fall zeigen sich bereits heute vielfättige Möglichkeiten auf, wie die gesundheitspolitischen Ziele eines umfassenden Zugangs der Bevölkerung zu einer qualitativ hochwertigen Arzneimittelversorgung mit weniger intensiven Markteingriffen erreicht werden können, als sie in Deutschland derzeit vorhanden sind. Aber auch dann wird die Umsetzung deregulierender Reformmaßnahmen aufgrund der vielfältigen Interessen schwierig werden. Sie wird wesentlich von den politischen Konstellationen auf Bundes- und Länderebene abhängen und der Machtposition der einzelnen Akteure.“
Dr. Sonja Optendrenk ist Volkswirtin, nach ihrem Studium in Trier wurde sie 1997 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Professor Dr. Eckhard Knappe. Schon damals beschäftigte sie sich mit Gesundheitsökonomie, bevor sie vorübergehend Referentin für „Gesundheitssystementwicklung" beim Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa) wurde.
Anfang der 2000er Jahre kam sie als Gesundheitsökonomin ins BMG, doch schon 2005 wechselte als Referentin für Gesundheitspolitik ins Bundeskanzleramt, wo sie schnell Karriere machte: Direkt nach ihrer Promotion übernahm sie 2010 die Leitung des Referats. 2015 wurde sie sogar zur Leiterin Gruppe 32 „Nachhaltigkeit; Infrastrukturpolitik“ befördert.´
Im April 2018 kehrte Optendrenk ins BMG zurück. Der damalige Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) betraute sie mit der Leitung der neu gegründeten Leitungsabteilung, die das Ministerium seitdem strategisch führt. Im Frühjahr 2020 wurde ihr die Leitung der Abteilung 2 „Gesundheitsversorgung, Krankenversicherung“ übertragen, die als Schlüsselressort innerhalb des BMG gilt.
Neben Optendrenks Erfahrung und Kompetenz dürfte für Spahn auch die eigene Netzwerkpflege entscheidend gewesen sein: Die mittlerweile 52-Jährige ist die Schwester des heutigen NRW-Finanzministers Dr. Marcus Optendrenk, der wie Spahn im CDU-Landesverband groß geworden ist.
Jedenfalls hielt Lauterbach nicht an ihr fest. Schon im Februar 2022 setzte er Michael Weller, zuvor Stabschef Politik im GKV-Spitzenverband, auf ihren Posten und degradierte Optendrenk zur Unterabteilungsleiterin „Zielgruppenspezifische Prävention, Nicht übertragbare Krankheiten “. In dieser Funktion kümmert sie sich jetzt um die Herz-Kreislauf-Checks in Apotheken.
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