Mit einer neuen Richtlinie will die EU tief in die Hoheit ihrer Mitgliedsstaaten zur Regulierung bestimmter Berufe eingreifen. Betroffen sind Notare, Anwälte, Architekten, aber auch Apotheker und Ärzte. Änderungen im Berufsrecht sollen danach im Rahmen der EU verhältnismäßig sein und müssen vorab angemeldet und abgestimmt werden. Dagegen wehren sich die ABDA und die Bundesärztekammer (BÄK). Sie sehen das Subsidaritätsprinzip verletzt.
Der Richtlinienvorschlag der EU sieht unter anderem vor, dass noch vor Erlass einer neuen oder vor der Änderung einer bestehenden berufsrechtlichen Regelung eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt werden muss. Diese Prüfung soll insbesondere unter Abwägung ökonomischer Gesichtspunkte erfolgen und die Auswirkungen auf den Wettbewerb innerhalb der Union beinhalten. Dabei soll unter Einbeziehung sogenannter unabhängiger Kontrollgremien eine Kosten-Nutzen-Analyse erstellt werden.
Darüber hinaus ist von den Mitgliedstaaten eine Gesamtwürdigung der Umstände vorzunehmen. Dabei soll die Gesamtwirkung der betreffenden Reglementierung in Bezug auf bereits bestehende Anforderungen einbezogen werden. Dies betrifft beispielsweise Pflichtmitgliedschaften in einer Kammer oder geografische Beschränkungen. Im Fall von Änderungen soll – wie bei der Notifizierung von Gesetzen – den anderen Mitgliedsstaaten ein Informations- und Stellungnahmerecht eingeräumt werden.
Klare Absicht der EU-Kommission ist offenbar, Druck in Richtung Liberalisierung von reglementierten Berufen zu machen. „Ein vertiefter und fairerer Binnenmarkt ist eine der obersten Prioritäten der Europäischen Kommission“, heißt es im Richtlinienvorschlag. Der Schwerpunkt der EU-Politik liege auf Wachstum und Beschäftigung. Nach Ansicht des Europäischen Rats sei „die Verwirklichung eines vertieften und faireren Binnenmarkts von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, Arbeitsplätze zu schaffen, die Produktivität zu steigern und ein attraktives Umfeld für Investitionen und Innovation zu gewährleisten“.
Die wichtige Rolle, die reglementierte Berufe für die Wirtschaft der EU spielten, könne nicht „hoch genug geschätzt werden“, so die Kommission. Zahlreiche Studien zeigten jedoch den „noch nicht ausgeschöpften Nutzen der Förderung des Binnenmarktes im Dienstleistungsbereich“. In den meisten Fällen sei eine Regulierung zwar gerechtfertigt und sogar willkommen, zum Beispiel bei Fragen der Gesundheit und Sicherheit.
Um aber sicherzustellen, dass eine Regulierung zweckmäßig sei und keine ungerechtfertigten Belastungen mit sich bringe, „muss sie sorgfältig geprüft werden, um ihre Wirkung auf Interessenträger und das weitere wirtschaftliche Umfeld vollständig abzuschätzen“. Aus diesem Grund seien bereits Schritte zur Einführung einer „Ex-ante-Prüfung“ der Verhältnismäßigkeit im Rahmen der Regulierung von Berufen gemäß der Binnenmarktstrategie angekündigt worden.
Die einzelnen Mitgliedstaaten hätten im Laufe der Zeit verschiedene Regelungen eingeführt, die „lange Traditionen widerspiegeln“. Im Allgemeinen habe es gute Gründe für Berufsregeln gegeben, um zentrale Ziele des Allgemeininteresses zu schützen, indem Fachkenntnisse, Ausbildung und Kompetenzen für Berufsangehörige festgelegt worden seien. „Unangemessene Regulierung kann Berufsangehörige, Unternehmen und Verbraucher jedoch belasten; zu den möglichen Belastungen gehören unverhältnismäßige Qualifikationsanforderungen, übermäßig viele vorbehaltene Tätigkeiten, die Pflichtmitgliedschaft in einem Berufsverband oder andere Maßnahmen“, schreibt die EU-Kommission.
So hätten Mitgliedstaaten beispielsweise nur nach „sehr oberflächlicher Prüfung der Verhältnismäßigkeit“ Beschränkungen für bestimmte Tätigkeiten erlassen oder die bestehenden Beschränkungen erweitert, etwa für Steuerberater oder Fremdenführer, kritisiert die Kommission. Sowohl unabhängige als auch von der Kommission durchgeführte Studien hätten belegt, dass sich unverhältnismäßige Reglementierungen negativ auf die Schaffung von Arbeitsplätzen, das Wachstum, die Wahlmöglichkeiten der Verbraucher, Preise, Innovation, Investitionen und den Handel auswirkten.
Dann beschreibt die Brüsseler Behörde aus ihrer Sicht die Vorteile von Deregulierung und Liberalisierung. Darin kommen auch die Apotheker als Beispiel vor: „In Italien erhielten durch die Bersani-Reform 2006 neue Marktteilnehmer Zugang zum Markt, was bei jungen Apothekern zu einem Anstieg der Beschäftigung führte.“ In Polen habe die Reform des Anwaltsberufs, die objektive Zugangsregeln schaffte, fast zu einer Verdreifachung der Zahl der Anwählte von 2005 bis 2015 und fast zu einer Verdoppelung der Zahl der Rechtsberater geführt, „ohne negativen Einfluss auf Vergütungen und Qualität“. Und in Griechenland hätten Reformen zu niedrigeren Preisen für die Dienstleistungen geführt.
Dieser Argumentation kann die ABDA nicht folgen. Sie sieht im Plan der Kommission in erster Linie eine Gefahr für die Berufsordnung der Apotheker: „Eine erste Durchsicht der Kommissionsvorschläge hat bei uns zu einer sehr kritischen Einschätzung geführt“, heißt es in einer Stellungnahme. Die heute bestehenden Regulierungsoptionen und Wertungsspielräume der Mitgliedstaaten würden dadurch deutlich beschnitten, möglicherweise in bestimmten Bereichen sogar faktisch ganz beseitigt.
Die EU-Richtlinie werfe „fundamentale Fragen der Zuständigkeitsverteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten sowie den Grundsätzen der Subsidiarität und der Gewaltenteilung auf“. Der Vorschlag sei „überzogen“: Der EU stehe „keine Kompetenz zu, den Mitgliedstaaten rechtsmethodische Vorgaben bei ihrer Gesetzgebung zu machen oder gar in die interne Zuständigkeitsverteilung der Mitgliedstaaten einzugreifen“.
Auch die Ärzte lehnen die EU-Pläne ab: „Es ist das altbekannte Spiel: Die Europäische Kommission versucht einmal mehr, die gesundheitspolitischen Kompetenzen ihrer Mitgliedstaaten zu beschneiden. Dabei regelt der Vertrag von Lissabon eindeutig, dass über die Gesundheitspolitik auf nationaler Ebene entschieden wird“, warnt BÄK-Präsident Professor Dr. Frank Ulrich Montgomery. In einem Schreiben an das Bundesgesundheitsministerium, das Bundesjustizministerium und das Bundeswirtschaftsministerium warnt Montgomery davor, diesen Richtlinienvorschlag im Bereich des Gesundheitswesens umzusetzen.
Er verstoße gegen das in den EU-Verträgen verankerte Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzip. Zudem drohten ein erheblicher Mehraufwand sowie zusätzliche Kosten durch Gutachten und Studien. Besonders gravierend sei, dass die in dem Vorschlag angelegte Begründungspflicht für Neuerungen oder Änderungen der Berufsvorschriften die Rechtsetzung verzögere. Dies betreffe auch wichtige Maßnahmen zum Schutz von Patienten. Der EU-Richtlinienvorschlag steht nach Ansicht der BÄK nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs: Der EuGH betone in seinen Urteilen stets das Recht der Mitgliedsstaaten, selbst zu entscheiden, welche Berufe sie wie stark reglementieren.
Derzeit wird der EU-Richtlinienvorschlag im Bundesrat beraten. Am 31. März wollen sich die Ministerpräsidenten damit befassen. Dann ist die Bundesregierung am Zug.
Vor zehn Jahren hatte sich die Kommission noch massiv für eine Liberalisierung der Apothekenmärkte eingesetzt. Gegen mehrere Mitgliedstaaten wurden Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Doch nicht mit juristischen Mitteln machte sich die Kommission für Apothekenketten stark: Beim niederländischen Forschungsunternehmen Ecorys wurde eine Studie in Auftrag gegeben, die sich für einen Abbau der Regelungsdichte im Apothekenmarkt aussprach. Am 15. Oktober 2008 fand bei der Generaldirektion Binnenmarkt außerdem ein Workshop statt, bei dem sich rund Hundert geladene Vertreter verschiedener Interessengruppen hinter verschlossenen Türen über viel pro und wenig kontra einer Liberalisierung des Apothekenmarktes austauschten. Der EU-Großhandelsverband sprach damals über Vorteile der Liberalisierung.
Nachdem der EuGH im Mai 2009 die Zulässigkeit des Fremd- und Mehrbesitzverbots bestätigte, schlugen man in Brüsseler leisere Töne an. Mit der Finanzkrise erhielten die Eurokraten neuen Aufwind: In Südeuropa und insbesondere in Griechenland wurde unter anderem die Liberalisierung des Apothekenmarktes zum Thema gemacht. Im Herbst 2015 legte die Kommission außerdem ein Arbeitspapier mit dem Titel „A Single Market Strategy for Europe“ vor, indem noch einmal die Abschaffung von Niederlassungsbeschränkungen im Einzelhandel gefordert wurde. Auch hier wurde explizit auf die Apotheken verwiesen.
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